Es tut mir so leid», sagt Seymen. Dass die Juden während der Nazizeit «versklavt» wurden, ihnen alles genommen wurde, sei «schrecklich». Bis vor Kurzem hatte der 14-Jährige, dessen Familie aus der Türkei stammt, überhaupt noch nichts über die Judenverfolgung im Dritten Reich gewusst. «Natürlich kenne ich Hitler, aber die jüdische Geschichte habe ich nun zum ersten Mal so richtig gehört», sagt der Neuntklässler der Willy-Brandt-Oberschule im Wedding. Er wäre in dieser Situation womöglich geflohen oder hätte sich umgebracht, glaubt er.
Kantor Assaf Levitin beugt sich über die acht soeben verlegten Stolpersteine in der Weddinger Badstraße für die Familien Leschnik und Simon und singt das Totengebet El Male Rachamim. Seymen hört aufmerksam zu, zieht sein Handy hervor und filmt den Kantor.
Neben den Schülern, die die Stolpersteinverlegung mitinitiiert haben, legen Beter der Synagoge Bet Haskala, Mitglieder der Kirchengemeinde An der Panke sowie des Arbeitskreises Christen und Juden und des Deutsch-Russischen Vereins Rosen auf die Steine.
wandzeitung «Ich finde es traurig, dass Menschen wegen ihres Glaubens so behandelt wurden», sagt Mehmet, ebenfalls 14 Jahre alt. Es mache ihn richtig wütend, wie mit den Juden umgegangen wurde, dass sie ein Symbol tragen mussten, deportiert und ermordet wurden. Er schüttelt den Kopf. Auch seine Mitschüler wirken nachdenklich.
Die Klassenlehrer Sebastian Putzier und Nastasja Heppner möchten ihre Schüler für Antisemitismus und Rassismus sensibilisieren. «Unsere Schule hat einen Migrationshintergrund», sagen sie. Auch deshalb hatten sie dieses Projekt geplant. Von 21 Schülern hat nur einer deutsche Eltern. Die Familien der anderen stammen aus den palästinensischen Gebieten, Indonesien, dem Irak, Albanien, Griechenland, Syrien, Polen und Rumänien.
Drei Wochen lang beschäftigten sie sich intensiv mit der Geschichte der beiden Familien, die sie anschließend in einer Wandzeitung festhielten. «Wir nehmen vieles mit von dem Projekt», sagen Seymen und Mehmet. So entschied sich die Klasse, den Erlös aus dem Weihnachtsbasar dem Stolperstein-Projekt zu spenden.
Marion Schubert, die mit den Familien Leschnik und Simon verwandt ist, berichtete den Schülern zudem im Klassenzimmer. «Danke, dass Sie zu uns gekommen sind», sagen Seymen und Mehmet. Auf der Wandzeitung hielten sie fest, wie sie sich fühlen würden, wenn ihnen heute Ähnliches widerführe: «Ich wäre traurig, wenn ich in ein Sammellager müsste», steht an einer Stelle, an anderen heißt es: «Ich hätte keine Klamotten, kein Handy, keinen Fernseher und keinen Nachbarn mehr» und «Ich würde mich unwohl fühlen, respektlos behandelt, und so sollte man nicht miteinander umgehen».
uhrmacher Wedding sei damals kein typisch jüdischer Bezirk gewesen, bemerkt Gudrun O’Daniel-Elmen, die die Geschichte der Familien Leschnik und Simon recherchiert hat. Seit 1910 gab es die Privatsynagoge Ahavas Achim in der Prinzenstraße, in der Michaelis Leschnik Vorsteher war. Der Uhrmacher und Juwelier hatte an der Ecke der Badstraße sein Geschäft. Mit seiner Frau Johanna bekam er zwei Töchter. Nach der Pogromnacht 1938 war er so verzweifelt, dass er sich in die Panke stürzte. Tochter Irene emigrierte ins damalige Palästina. Die andere Tochter, Käthe, heiratete und bekam drei Kinder.
Die Schoa überlebte niemand in der Familie: Ihre Mutter Johanna kam im Vernichtungslager Sobibor ums Leben. Käthes Ehemann, Leopold Simon, der Zwangsarbeit leisten musste, und die drei Kinder wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Käthe wurde später nach Auschwitz deportiert und auf den Todesmarsch nach Bergen-Belsen geschickt. Vermutlich starb sie an Typhus.
Michaelis Leschniks Urenkel Michael ist zusammen mit seiner Frau aus Israel zur Stolpersteinverlegung angereist. Nie sei über die Familiengeschichte gesprochen worden, als seine Eltern noch lebten, erzählt er den Schülern. Dank ihrer Initiative habe er nun erfahren, woher er kommt.
zeichen «Ihr wurdet an verschiedenen Orten geboren, sprecht unterschiedliche Sprachen – und trotzdem stehen wir alle hier zusammen im Gedenken an die Familien», wandte sich Sophia Schmitz von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin in ihrer Ansprache an die Schüler. Mit diesem Projekt würden sie ein wichtiges Zeichen setzen.
«Wenn ihr an den Steinen vorbeikommt, dann schaut immer nach ihnen, auch, ob sie sauber sind», gibt Sebastian Putzier den Schülern mit auf den Weg. Sie nicken. Denn sie fühlen sich nun für «ihre» Steine verantwortlich.