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Buchenwald

»Gedenken braucht Wissen«

»Der 11. April 1945«, so Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, »brachte für 21.000 Häftlinge in Buchenwald die Befreiung, mehr als 20.000 Männer und Frauen befanden sich noch in der Hand ihrer Peiniger.« Sie waren auf Todesmärsche geschickt worden, manche wurden erst am 8. Mai im Zuge der Kapitulation befreit, doch »auch sie begingen den 11. April als den symbolischen Tag ihrer Befreiung«.

Das Gedenken an den 77. Jahrestag der Befreiung des ehemaligen NS-Konzentrationslagers Buchenwald am vergangenen Sonntag auf dem Ettersberg bei Weimar wurde live im Internet übertragen, um vielen die Chance zu geben, dabei zu sein. Offizielle Vertreter aus Russland und Belarus waren in diesem Jahr nicht geladen. Dafür kam Anastasia Gulej, die Vorsitzende des Vereins der ukrainischen politischen KZ-Häftlinge. Die 96-Jährige lebt mittlerweile in Sachsen-Anhalt. Vor Wochen noch hatte sie sich in einem Vorort von Kiew, ihrem Zuhause, vor den russischen Angriffen versteckt. Als die Situation immer gefährlicher wurde, entschloss sich die hochbetagte Überlebende der Lager von Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen, ihr Land zu verlassen.

bombenangriff Ihre Anwesenheit und die Tatsache, dass der gleichaltrige Boris Romantschenko, der nahe Charkiw lebte, am 18. März bei einem russischen Bombenangriff ums Leben kam, warfen nochmals ein anderes Licht auf das Gedenken in diesem Jahr. Der Buchenwald-Überlebende Romantschenko, der zudem Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora war, hatte 2015 den Schwur von Buchenwald in russischer Sprache gelesen. Ein großformatiges Foto erinnert am Jorge-Semprún-Platz in Weimar an ihn.

Vor diesem Hintergrund wurde es auch für den Gedenkstättenleiter in diesem Jahr ein anderes Erinnern: »77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs herrscht in Europa erneut Krieg. Für die ukrainische Zivilbevölkerung und ukrainische KZ-Überlebende stellt dieser Krieg eine existenzielle Bedrohung dar«, sagte Wagner.

Er erinnerte daran, dass bis 1945 russische, belorussische und ukrainische Häftlinge in Buchenwald etwa ein Drittel aller Gefangenen ausmachten. »Sie litten gemeinsam, und gemeinsam stellten sie sich dem NS entgegen. Gemeinsam schworen sie am 19. April 1945 – eine Woche nach ihrer Befreiung –, eine Welt des Friedens und der Freiheit errichten zu wollen.«

Auch Naftali Fürst, der Vertreter Israels im Internationalen Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD), war an diesem Tag aus Haifa angereist.

Auch Naftali Fürst, der Vertreter Israels im Internationalen Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD), war an diesem Tag aus Haifa angereist. Er hatte als Kind die Lager in Auschwitz-Birkenau und Buchenwald überlebt. »Meine lieben Gäste, ich sage am Anfang ein paar Worte in Hebräisch«, begann der heute 89-Jährige, der von seinem ältesten Enkel Tom begleitet wurde, seine Rede.

Tom wird nun als Vertreter der jungen Generation die Stimme seines Großvaters in Gremien und in der Erinnerungsarbeit zu Gehör bringen. Ihn habe immer beeindruckt, erzählte er später, dass er frei von Traumata aufwachsen und jederzeit seinen Großvater befragen konnte. Das Erinnern, ergänzte er, sei notwendiges Wissen. »Als ich älter wurde, verstand ich mehr, vor allem die Botschaft: Niemals vergessen!«

Wann immer es ihm möglich war, reiste Naftali Fürst an den oftmals regnerischen und stürmisch-kalten Gedenktagen nach Weimar. Auch in diesem Jahr zog ein eisiger Graupelschauer über den Platz, der eine leise Ahnung davon gab, wie es gewesen sein muss, in Häftlingskleidung stundenlang bei einem Appell ausharren zu müssen. Fürst trug damals die Nummer 120.041.

überlebende »Es ist 17 Jahre her, dass ich an der Feier zur Befreiung des Lagers Buchenwald zum ersten Mal teilgenommen habe«, berichtete Fürst. Nur 16 Überlebende waren in diesem Jahr angereist. »Weiter lichten sich unsere Reihen, und heute sind wir nur noch sehr wenige hier, das ist sehr traurig.« Fürst, der in den vergangenen Jahren an unzähligen Gesprächen mit Schulklassen in Thüringen, aber auch in anderen Bundesländern teilgenommen hat, betonte, dass die Zeit jetzt, vor allem vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, für alle schwierig sei.

»Es ist unsere Verpflichtung, auf unmoralische Ereignisse zu reagieren. Wir sind zu alt, um physisch zu kämpfen. Aber niemand wird unsere Stimme ersticken.« Der Jahrestag der Befreiung des Lagers Buchenwald sei für die ganze Welt ein Gedenktag. Niemals dürfe vergessen werden, was dort geschehen ist. »Jenen Gehör zu verschaffen, die nicht überlebt haben, das sind wir uns selbst und der Welt schuldig«, sagte Fürst.

Deportation Denn 56.000 Männer, Frauen und Kinder überlebten die Deportation nach Buchenwald nicht, berichtete Jens-Christian Wagner: »Politische Häftlinge aus allen Ländern Europas, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene, Homosexuelle, Zeugen Jehovas sowie als ›Asoziale‹ und ›Berufsverbrecher‹ Verfolgte.«

Zum 21. Mal habe er einen solchen Gedenktag mit organisiert, so Wagner. »Das birgt die Gefahr einer Wiederholung und Ritualisierung, wenn jedes Jahr dasselbe Programm abgespult, ein Gedenktag zur Pflichtveranstaltung wird oder bestenfalls zum Trauern ohne Nachdenken. Dann sind wir auf dem falschen Weg!«

»Wie halten wir trotz zeitlichem Abstand die Erinnerung aufrecht?«

Josef Schuster

Viele treibe derzeit die Frage um: Wie wird dieses Gedenken künftig aussehen? Für den Gedenkstättenleiter ist klar: »Wenn Gedenken mit Wissen und Reflexion verknüpft wird, mit einer kritischen Auseinandersetzung über die Vergangenheit, wenn wir uns fragen, was die NS-Verbrechen der Vergangenheit mit unserem heutigen Leben zu tun haben, dann bedeutet das viel beschworene Erinnern mehr als historisch entkernte Pietät. Dann geht es zum einen um die ernsthafte Würdigung derer, die in Buchenwald gelitten haben und gestorben sind, und es geht zum anderen um historisches Lernen für die Zukunft.«

wissenslücken Ähnlich sieht das auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Ginge es nach ihm, so sollten Gedenkstättenbesuche im Lehrplan der Schulen verpflichtend werden. Sie seien »nicht nur sinnvoll, sondern zwingend notwendig« angesichts der Wissenslücken, der Zunahme von Rechtsextremismus, Verschwörungsmythen und Antisemitismus. »Wenn man heute die Zahlen der Opfer der Schoa auflistet, so bleiben sie doch unbegreiflich«, sagte Schuster. »Die Schoa übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen.«

Weil viele Menschen generationsbedingt keinen Bezug mehr dazu hätten, gehe es nun um die Frage: »Wie halten wir trotz wachsendem zeitlichen Abstand die Erinnerung aufrecht? Wie geben wir Wissen weiter – und mit welchen Mitteln?«

»Es gibt einen Grundgedanken: Gedenken braucht Wissen und ist kein Selbstzweck«, sagte der Zentralratspräsident. Eine moderne Gedenkkultur für andere Mediennutzer sei gefragt. Darauf hätten die Gedenkstätten »längst reagiert«. Es gebe neue Formate, Formen und Guides, die geschult seien, auch, um bei speziellen, kritischen Rückfragen reagieren zu können. Bei der Weitergabe der Erinnerung käme den Schulen eine Schlüsselposition zu. »Geht die Vermittlung in dieser Zeit schief, wenden sich die Menschen oft ab. Sie wollen nicht mehr hinschauen, sind für das Thema nicht mehr zugänglich«, warnte Schuster.

zeitzeugengespräche Unmittelbare Zeitzeugengespräche werde es künftig wohl nicht mehr geben. Das wurde auch deutlich, als dem Vertreter Rumäniens im IKBD, Vasile Nussbaum, der Überlebender von Auschwitz und Buchenwald ist, eine Dolmetscherin half und stellvertretend seine Rede verlas.

Der hochbetagte Überlebende erzählt darin von seinem jungen Bruder und einem kleinen Zettel, den er von ihm als letzten Gruß zugesteckt bekam, ein abgerissenes Stück Papier eines Zementsackes. Darauf stand: »Mein lieber Bruder, ich wünsche dir, dass du freikommst, und wenn du mit unseren Eltern redest, bereite ihnen keinen Kummer wegen mir.« Es sind die Worte eines 13-Jährigen, der kurz zuvor selektiert worden war und in der Gaskammer ermordet wurde.

Sein kleiner Bruder steckte ihm einen Zettel zu, in dem er ihm bat, den Eltern keinen Kummer zu bereiten, erzählt Vasile Nussbaum.

»Mein Bruder konnte nicht ahnen, dass ich nie wieder mit unseren Eltern sprechen würde.« Denn auch sie überlebten nicht. Gefasst schilderte Nussbaum, wie ihn die ständige Frage nach dem Überleben im Lager beschäftigt hatte, wer ihm half, wer zu den »Guten« gehörte. Er wolle damit auch Zeugnis ablegen und auf jene aufmerksam machen, die im Kleinen und Geheimen Leben retteten: der Kapo eines Krankenhauses, der Blockälteste.

»Wer ein Menschenleben rettet, hat damit die ganze Welt gerettet.« Mit diesem Zitat schloss Nussbaum seine Botschaft. Und mit dem Blick auf die Nachricht seines Bruders fügte er hinzu: »Sechs Millionen Juden hatten nicht die Chance, letzte Worte zu hinterlassen.«

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