Ich spürte nur Verzweiflung, die Qual jener hungernden, zerlumpten, kranken, sterbenden Körper», notiert Robert L. Hilliard in seinen Erinnerungen. «Vielleicht hätte ich mir diesen Tag als einen bedeutenden Moment der Geschichte vorstellen sollen, als Wiedergeburt eines Volkes, das wortwörtlich aus der Asche auferstanden war.»
Robert L. Hilliard, amerikanischer Soldat, beschreibt jenen Spätfrühlingstag in einer bayerischen Bilderbuchkulisse – mitten im Kloster St. Ottilien in der Nähe des Ammersees. Am 27. Mai 1945 geben dort jüdische Überlebende ein Konzert mit den Worten: «Dies ist unser Befreiungskonzert.»
Displaced Persons Es herrscht – trotz der Freude – eine bedrückende Stimmung. Ausgezehrte Menschen, kraftlos im Gang und leer im Blick, beginnen einen neuen Lebensabschnitt und machen – im wahrsten Sinne des Wortes – die ersten eigenen Schritte nach ihrer Zeit in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Etwa 400 Menschen, sogenannte Displaced Persons, leben zu dieser Zeit im Kloster, tanken Kraft, bauen Vertrauen auf, erhalten medizinische Betreuung.
Die «Ottilien-Babys» tragen die Geschichte ihrer Eltern weiter.
Der litauische Arzt Zalman Grinberg – selbst ein Überlebender – wird mit der Aufgabe betraut, das Hospital aufzubauen und mit einem Team zu leiten. Filmaufnahmen aus dieser Zeit zeigen Ärzte und Schwestern bei chirurgischen Eingriffen – und Patienten, meist Männer, mit stoppelkurzem Haar, abgemagert, in sich gekehrt.
In gestreiften Pyjamas liegen sie in den Krankenbetten eines großen Saales. Manche sitzen an Tischen und schauen traumatisiert in die Kamera. Es sind beklemmende Bilder. Kaum ein Lächeln, die Blicke sind leer. Die Strapazen der Lager liegen nur wenige Wochen hinter ihnen. Und ausgerechnet die katholische Erzabtei St. Ottilien wird zu ihrem ersten sicheren Ort nach einer Odyssee der Flucht, des Hungers und der Gewalt.
Erstversorgung Wie viele jüdische Menschen hier betreut und ärztlich versorgt worden sind, lässt sich heute kaum genau sagen. «An den Listen sitze ich seit einem Jahr», sagt Pater Cyrell, einer der Mönche, der seit 25 Jahren dem Orden der Missionsbenediktiner an diesem Ort angehört. «Nach den Krankenhauszahlen müssten es etwa 6100 Patienten gewesen sein, die stationär behandelt worden sind.» Menschen, die zwischen 1945 und 1948 hier Zuflucht fanden.
Für viele war es ein Neuanfang, der Start in ein neues Leben, ein anderes Land. Manche Menschen fanden hier ihren Lebenspartner und gründeten eine Familie. Etwa 400 «Ottilien-Babys» sind ab April 1946 zur Welt gekommen. Kinder, die heute mit ihren Kindern am Ammersee sind.
Pater Cyrell kennt diese Geschichten und damit auch die Fragen der zweiten und dritten Generation. Er selbst hat vor 25 Jahren davon erfahren. Man vertraute dem jungen Pater – seiner Englischkenntnisse wegen – eine kleine Besuchergruppe an. Für ihn begann damit die Begegnung mit Schicksalen und der Geschichte eines Ortes, wie er sie nicht für möglich gehalten hätte.
Der israelische Künstler Eliav Kohl wird als «artist in residence» Gast des Klosters sein.
«Heute sind Freundschaften daraus geworden. Und ein großes Interesse an der jüdischen Kultur und Tradition», sagt der Pater. Es gehe auch um Versöhnung mit jenem Teil der Geschichte, «mit dem man sich nicht gerne auseinandersetzt». «Da merkt man doch als Christ, dass man unglaubliche jüdische Wurzeln hat, das wird einem oftmals gar nicht so bewusst, dass die gesamte christliche Welt auf jüdischen Grundlagen beruht.»
Konferenz 2018 gab es eine große Konferenz, um Wissenslücken rund um das Hospital zu schließen und den letzten Zeitzeugen Raum und Wort zu geben. Und: Das Befreiungskonzert von damals wurde nochmals aufgeführt. «Wir hatten ja die Dokumente dazu und die Programme», sagt Doris Pospischil.
Für sie ist das Thema zum Herzensanliegen geworden. Gemeinsam mit ihrem Mann rief sie 2014 die «AMMERSEErenade» ins Leben und sorgte dafür, dass mit israelischer Unterstützung und hochrangigen Künstlern von dort und aus Deutschland das Konzert nochmals aufgeführt werden konnte. «Das Publikum hatte Tränen in den Augen. Alle waren tief bewegt. Auch Anne-Sophie Mutter, die wir für dieses Konzert gewinnen konnten.»
Das Klassikfestival muss in diesem Jahr ausfallen und wird auf 2021 verlegt. Auch ein Erinnerungskonzert im Gedenken an jenen 27. Mai 1945 im Kloster St. Ottilien musste abgesagt werden. Aber es gibt einen Ersatz, zumindest per Video.
«Diplomatisches Quartett» Nicht nur Robert L. Hilliard schickte Grüße per Video aus dem fernen Florida, auch das «Diplomatische Quartett», mit dem Antisemitismusbeauftragten Felix Klein an der Geige, spielte seine Musik in Berlin ein und schickte dieses Video vom Konzert aus der Synagoge in der Rykestraße. IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch sendete als Schirmherrin Grüße, ebenso Bundesaußenminister Heiko Maas.
In wenigen Wochen wird, wenn alles klappt, der junge israelische Künstler Eliav Kohl als «artist in residence» drei Wochen Gast des Klosters St. Ottilien in Oberbayern sein. Alle zwei Jahre wollen die Veranstalter einen Vertreter der jungen Generation einladen, an dem Ort künstlerisch tätig zu sein, zu komponieren, zu gestalten und sich auf diese Art mit Geschichte auseinanderzusetzen.
Geschichtsvermittlung Geht es nach Doris Pospischil und ihren Mitstreitern, so ist ihnen eines wichtig: erinnern, Wissen vermitteln und die neue Generation einbeziehen, egal ob in Deutschland oder anderswo. «Das ist ein neuer Zeitabschnitt. Die ›Ottilien-Babys‹ tragen die Geschichte ihrer Eltern weiter, aber sie haben sie nicht selbst erlebt. Das ist die nächste Generation. Wir müssen Geschichte vermitteln und zwar so, dass es allen jungen Menschen schwerfällt, wegzuhören.»
Die AMMERSEErenade wird dieses Erbe weitertragen.
Auch Pater Cyrell bemerkt, wenn bei ihm im Kloster manchmal ganze Familien anreisen, dann bekämen Gespräche zwischen den Generationen nochmals eine besondere Nähe, ein anderes Interesse und Verständnis. Doch sicherlich sind es nicht nur die Nachkommen der hier Geborenen, die sich Gedanken um Vergangenes und die Frage der Versöhnung machen.
Quellen Als Pater Cyrell nach Quellen aus der Zeit nach 1945 suchte, war dies nicht so einfach. Im Kloster hatte man damals nicht bewusst Dokumente gesammelt und vielleicht die Dinge auch anders eingeordnet. «Da merkt man schon, es war eine gewisse Abwehrhaltung. Diese Zeit hat man nicht als Klostergeschichte begriffen, sondern als ›feindliche Übernahme‹. Da wurde nicht gründlich gesammelt.» Man sei deshalb heute auf Quellen von außen angewiesen und habe in den vergangenen zwei Jahren einiges entdeckt.
Die AMMERSEErenade wird dieses Erbe weitertragen. Im großen Kreis der Unterstützer und Helfer sind übrigens die Nachkommen der beiden jüdischen Ärzte, die nach 1945 das Hospital aufbauten.