Im März kam es in München bei der Europäischen Janusz Korczak Akademie zu einer denkwürdigen Begegnung. Die renommierte ungarische Philosophin Ágnes Heller und der aus der Ukraine stammende bekannte israelische Politiker Natan Sharansky waren Hauptredner der Tagung »Jüdisches Denken – Jüdische Denker«.
Sowohl Heller als auch Sharansky haben die negativen Konsequenzen unabhängigen Denkens in einem kommunistischen System am eigenen Leib schmerzlich erlebt. Den Bericht ihrer Erfahrungen wollten sich viele der studentischen Zuhörer nicht entgehen lassen. Zunächst aber erkundeten sie gemeinsam mit Heller Themenfelder wie »Judeophobie, Antijudaismus und Antisemitismus« sowie »Was ist jüdische Philosophie?«. Dabei erlebten die Studenten, wie ein an marxistischer Dialektik geschulter, von den Erfahrungen zweier Diktaturen gezeichneter Geist philosophische Fragestellungen angeht.
Emigration Ágnes Heller, 1929 in Budapest geboren, überlebte den Judenhass ihrer Landsleute und die Vernichtungspolitik der deutschen Invasoren. Mit ihrem Eintritt ins Milieu oppositioneller Intellektueller geriet sie zunehmend in Konflikt mit der herrschenden Kommunistischen Partei in Ungarn. Die Erfahrung von Bespitzelung und Berufsverbot und schließlich ihre Emigration nach Australien 1977 fielen in eine Zeit, als Anatoli Borissowitsch Schtscharanski die »Refusnik-Bewegung« gründete – und als Dissident deshalb für neun Jahre im Gulag landete.
Während Heller von ihrem Doktorvater Georg Lukács inspiriert wurde, prägte den 1948 in Stalino geborenen Diplommathematiker Sharansky vor allem der Dissident und Physiker Andrej Sacharow. Hellers Weg führte über eine Soziologie-Professur in Melbourne 1986 an die New School for Social Research in New York, wo sie Hannah Arendts Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl für Philosophie wurde. Sharansky erlangte – im Austausch gegen einen sowjetischen Spion – 1986 seine vorzeitige Entlassung aus dem Gulag und begann in Israel ein neues Leben als Publizist, Politiker und Minister verschiedener Ressorts.
Für den Vortrag, den Ágnes Heller zum Ausklang ihres München-Aufenthalts für den Frauenlernkreis im Jüdischen Gemeindezentrum hielt, war ihr Zitat »Angst liegt nicht in meinem Charakter« ausgewählt worden. Zutreffend für sie und Sharansky sind eher Begriffe wie analytische Herangehensweise, Widerspruchsgeist und Konsequenz. Und wer Heller nur einen Vortrag lang erlebt hat, weiß, dass Aufgeschlossenheit, Lebensfreude und Humor unabdingbar dazukommen.
Insofern war es kaum verwunderlich, dass die Philosophin trotz umfangreichen Arbeitspensums mit ihrer Gastgeberin Eva Haller die Alte Pinakothek, das Jüdische Museum und die neue Münchner Hauptsynagoge besichtigte und zudem auch einen Opernbesuch zu genießen wusste. Zwischen diesen Besuchen waren Spaziergänge durch die Münchner Innenstadt ein absolutes Muss. Körperliche und geistige Beweglichkeit gehen bei Heller ganz selbstverständlich einher.
Tapferkeit Dialektisch geschult wägt Heller jeden Begriff ab. Selbst ihren eigenen, bereits erwähnten Satz »Angst liegt nicht in meinem Charakter« hinterfragt sie und macht sich darüber Gedanken, worin die jeweiligen Unterschiede zwischen Angst, Furcht und Tapferkeit liegen. Was bringt Menschen dazu, sich tapfer zu verhalten?
Und dann erzählt Heller, wie sie einst als Mädchen, ihres falschen Schutzpasses beraubt, Einlass ins Budapester Ghetto suchte. Ohne Papiere konnte nur die Begleitung durch einen deutschen Soldaten helfen. Einer, den sie auf der Straße fragte, kam mit. Zwei hätte Heller nie angesprochen: »Denn sie fürchten sich vor dem Urteil des anderen. Wenn sie allein sind, dann können sie auf ihr Gewissen hören.«
»Im Kommunismus«, erklärte Heller, »erkannten viele die Autorität von Stalin an, noch im Gulag glaubten sie, an ihrer Strafe sei etwas Gerechtes.« Auch in der ungarischen Geschichte gebe es Beispiele für dieses Muster, so Heller. Die Leute wollten vergessen, dass sie dabei gewesen seien; wer sich der einen Autorität gebeugt habe, empfinde nun Scham und wolle auch der neuen Autorität nicht ins Auge blicken.
Selbstkritisch räumt Heller ein: »Ich habe mich nicht allzu schnell daran gewöhnt, Nein zu einer bösen Macht zu sagen. Dazu braucht man Zeit. Ich will nicht meine Vergangenheit verschönen. Aber in der Zeit der Schoa habe ich mich wirklich tapfer benommen. Denn ich wusste, es geht um unser Leben, und wenn man feige ist, dann verliert man das Leben.«