Der Schreck sitzt bis heute tief, das merkt man, wenn Inessa Lukach wieder und wieder betont, dass sie an Deutschland vor allem die Sicherheit schätzt. Sie fühle sich sicher in ihrer Wohnung, sie habe eine Heimat in der Jüdischen Gemeinde zu Dresden gefunden. Nur die letzten Monate beunruhigen sie – wegen Pegida und der Flüchtlingsproblematik. Aber all das sei kein Vergleich zur Ukraine, wo sie nichts mehr hinzieht.
Fast 50 Jahre war Inessa Lukach alt, als sie nach Dresden kam. »Ich hatte keinen Zweifel, dass ich hier sofort Arbeit finden würde«, erinnert sie sich. Zunächst hatte sie Glück. Über ein Jahr lang konnte sie in einer Zahnarztpraxis mitarbeiten. Danach vermittelte der Zahnarzt sie weiter an einen Kollegen. Doch der ging nach wenigen Monaten pleite. Inessa Lukach wurde arbeitslos – und fiel in ein tiefes Loch. »Das war eine schreckliche Zeit für mich«, sagt sie, und ihr Blick wird düster.
Kariesprophylaxe Erst ein Zufall riss Inessa Lukach aus ihrer depressiven Stimmung. Bei einer ärztlichen Vorsorgeuntersuchung entdeckte sie im Wartezimmer Informationsblätter zu medizinischen Themen. Spontan kam ihr die Idee, diese Merkblätter für russischsprachige Patienten zu übersetzen. Noch heute hat sie einen ganzen Ordner voll mit diesen Infozetteln – von Kariesprophylaxe bis Beschneidung. Ihre Übersetzungen wurden in Praxen und Kliniken ausgelegt. Geld bekam sie dafür nicht, aber das war der Medizinerin egal. »Ich war zufrieden, dass ich etwas Sinnvolles tun konnte.«
2002 machte sie im Rahmen einer Fortbildung ein Praktikum in der Jüdischen Gemeinde zu Dresden – und blieb bis heute dort. Schon seit Jahren leitet sie den Treffpunkt »Amcha« für Holocaust-Überlebende, die sie »unsere Leute« nennt. »Wenn unsere Leute zufrieden sind und sich an den Veranstaltungen freuen, ist das für mich Lohn genug.« Geld sei ihr nicht wichtig. »Was sollten wir mit mehr Geld anfangen? Mein Mann ist krank, wir können sowieso nicht viel unternehmen.«
Hoffnungen Ein Neuanfang sollte es für Inessa Lukach und die vielen Tausend anderen werden, die nach Deutschland kamen: Allein zwischen den Jahren 1991 und 2004 kamen etwa 220.000 Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Sie hofften auf ein Leben in Sicherheit, bessere Chancen für ihre Kinder und darauf, gesellschaftlich und beruflich Fuß zu fassen. Etliche Wünsche erfüllten sich. Doch vielen Zuwanderern gelang es nicht, an ihre berufliche Laufbahn anzuknüpfen – trotz guter Ausbildung und Berufserfahrung.
Schon rund zehn Jahre alt ist eine Studie von Sonja Haug und Peter Schimany, die den jüdischen Neubürgern in Deutschland Probleme bei der Integration auf dem Arbeitsmarkt attestiert. Mangelnde Deutschkenntnisse und eine ebenso mangelnde Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen seien der Grund. Obwohl es seit 2012 ein Gesetz gibt, das die Anerkennung von Zeugnissen erleichtern soll, hat sich für viele Zuwanderer nicht viel geändert. Selbst wer inzwischen die deutsche Sprache gut beherrscht, ist oft schon zu lange aus seinem Beruf heraus, um jetzt noch einmal durchzustarten. Das gilt gerade für die älteren Zuwanderer, aber nicht nur für sie.
resignation Fayina Koyfman kann davon ein Lied singen. Erst 27 Jahre war sie alt, als sie und ihr Mann die Ukraine hinter sich ließen. Fayina hatte in Czernowitz Russisch studiert und arbeitete in der Stadt als Lehrerin an der jüdischen Schule. Auch ihr Mann war dort Lehrer. Als die jüdische Schule geschlossen wurde, sah das junge Paar keine Zukunft für sich in der Ukraine. Im Jahr 2000 zogen die Koyfmans nach Dresden. Eine Möglichkeit, sich vorab über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Bundesrepublik zu informieren, hätten sie nicht gehabt, berichtet Fayina Koyfman. Nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass sie in Deutschland nicht wieder als Russischlehrerin arbeiten könnte. »Ich dachte, ich wäre hier nützlich«, sagt die Lehrerin. »Aber leider …«, ruft sie aus und hebt resigniert die Hände.
Um in Deutschland unterrichten zu können, fehle ihr neben Russisch ein weiteres Fach, teilte das Kultusministerium mit. Das könne sie ja noch zusätzlich studieren. Aber Fayina Koyfman wollte arbeiten und Geld verdienen. Im Jobcenter machte man ihr keine Hoffnung. Sie sei keine ausgebildete Lehrerin; sie könne putzen gehen, bekam sie dort zu hören. Doch so schnell gab Fayina nicht auf: Sie versuchte, eine Stelle an der Uni zu bekommen, bewarb sich bei Privatschulen – überall Fehlanzeige.
»Ich bin verärgert«, bekennt die mittlerweile 43-Jährige. »Wir haben in der Sowjetunion eine gute Ausbildung erhalten. Wir sind Lehrer, Ärzte, Ingenieure. Aber wir bekommen keine Arbeit. Dabei werden doch Fachkräfte gesucht!«
bewerbungen Fayina Koyfman beschloss, einen neuen Weg einzuschlagen, und machte eine Ausbildung zur Bürokauffrau. Das einzige Jobangebot nach dem Abschluss kam aus Regensburg. Dorthin wäre sie auch sofort umgezogen. Doch dann machte der potenzielle Arbeitgeber einen Rückzieher, als er erfuhr, dass sie zwei Kinder hat, die damals noch klein waren.
Fayina Koyfman macht sich viele Gedanken darüber, warum ihre Bewerbungen erfolglos blieben. Ist ihre ukrainische Staatsbürgerschaft der Grund? Sind ihre Deutschkenntnisse nicht perfekt genug? Sie tat, was viele Mitglieder jüdischer Gemeinden ohne festen Job tun: Sie engagierte sich unentgeltlich bei der Gemeinde und machte Fortbildungen bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).
Bei diesen Seminaren seien so gut wie alle Teilnehmer in der gleichen Situation wie sie, stellt Fayina fest: qualifiziert, arbeitslos, auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit. »Das ist das größte Problem für jüdische Migranten. Alle leiden unter dieser Situation.«
taschengeld Fayina Koyfman hat eine Beschäftigung gefunden, die sie ausfüllt: Zurzeit arbeitet die zweifache Mutter als Bundesfreiwillige in der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. Für ein Taschengeld von monatlich 200 Euro kümmert sie sich 20 Stunden pro Woche um alte und demenzkranke Menschen. »Ich fühle mich gut dabei. Mein Selbstwertgefühl liegt nicht mehr am Boden, und ich kann meinen Kindern in die Augen sehen«, sagt sie.
Auch ihrem Mann ist es nach 16 Jahren in Deutschland nicht geglückt, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen; auch er hilft in der jüdischen Gemeinde aus. Ihm, dem Historiker, habe die Arbeitsagentur eine Ausbildung zum Floristen angeboten. Halb amüsiert, halb resigniert schüttelt Fayina Koyfman den Kopf: »Dabei hat er wirklich keinen grünen Daumen.«
Die vierköpfige Familie kann sich finanziell nicht viel erlauben. Die Kinder, acht und zwölf Jahre alt, müssen auf manches verzichten, bedauert die Mutter. Doch Fayina Koyfman bleibt optimistisch, denn sie hat einen Plan: Weil ihr die soziale Arbeit in der jüdischen Gemeinde gefällt, will sie über die ZWST einen zweijährigen Fernkurs in Sozialarbeit absolvieren. Anschließend hofft sie, eine feste Stelle zu finden.
depressiv Sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, das hat auch Inessa Lukach gelernt. Denn es gab eine Phase nach ihrer Ankunft in Deutschland, da habe sie nur zu Hause gesessen und geweint: »Ich war depressiv«, sagt sie rückblickend. Und das alles wegen des Jobs.
Als die gebürtige Ukrainerin mit ihrer Familie Mitte der 90er-Jahre nach Dresden kam, blickte sie schon auf 28 Jahre Berufserfahrung zurück. Sie arbeitete als Zahnärztin und Kieferchirurgin im Krankenhaus Nummer 16 in Dnjepropetrowsk. Ihr Mann hatte eine Stelle als Ingenieur. Inessa Lukach war erfolgreich in ihrem Beruf, ihre Behandlungsräume waren technisch auf dem neuesten Stand. Die sowjetische Politprominenz ließ sich von ihr das Gebiss richten.
Doch glücklich war die Familie nicht. Seit ihrer Kindheit hatte Inessa Lukach Benachteiligungen erlebt, weil sie Jüdin ist. In den 90er-Jahren wurde für sie und ihre Familie die Situation immer unerträglicher. Sie fühlte sich bedroht. Parteifunktionäre, die sie behandelte, warnten die Ärztin vor bevorstehenden Pogromen. Immer mehr jüdische Bekannte packten die Koffer; der Schwiegersohn erhielt eine Einladung nach Deutschland. Die Angst ließ schließlich auch Inessa Lukach und ihren Mann Leonid Khaykin Dnjepropetrowsk den Rücken kehren und nach Deutschland umziehen.
Sie hat ihren Platz im Leben gefunden. Das ist es, was für Inessa Lukach zählt. Der Treffpunkt »Amcha« ist ihr Ein und Alles. Sie ist voller Tatendrang und weiß, dass sie es ohne ihre zupackende Art nicht so weit gebracht hätte. Doch nicht jedem gelingt es, sich in Deutschland ein zweites Leben aufzubauen: »Wer nicht aktiv ist und jede Gelegenheit beim Schopf packt, der hat es schwer.« Ob sie jemals den Umzug nach Deutschland bereut hat? »Nein«, sagt sie mit fester Stimme. Sie weiß, dass es Zuwanderer gibt, die in Deutschland unzufrieden sind. Dafür fehlt ihr das Verständnis: »Sie könnten ja zurückgehen. Aber sie klagen und klagen – und bleiben hier.«