Am 9. Oktober 2019 verübte ein rechtsextremer Täter einen der schwersten antisemitischen Angriffe der jüngeren deutschen Geschichte. Der Anschlag in Halle erschütterte nicht nur die jüdische Gemeinde, sondern riss auch tiefe Wunden in das Vertrauen in die deutsche Gesellschaft.
Gleichzeitig hat der Anschlag nicht nur Wunden geschlagen, sondern auch Allianzen geschaffen. Überlebende des Anschlags und Angehörige anderer marginalisierter Gruppen standen während des anschließenden Prozesses als Nebenkläger:innen zusammen, vereint im Kampf gegen rechte Gewalt.
Diese Solidarität trug auch zu einem tieferen Verständnis zwischen Teilen der jüdischen und migrantischen, insbesondere muslimischen, Gemeinschaft bei. Doch die Ereignisse des 7. Oktober 2023 haben das Fundament dieser Bündnisse erschüttert. Nun, am fünften Jahrestag des Halle-Attentats, stellt sich die Frage: Was bleibt von der Solidarität? Und was bedeutet dieser Bruch für die Überlebenden von Halle?
Ein »Knacks« im Gedenken
Der Duden hat den Begriff Knacks wie folgt definiert: Er beschreibt einen Riss, einen Sprung, etwas, das plötzlich zerbricht und seine frühere Form verliert. Genau das erleben wir heute in den Bündnissen, die seit Halle entstanden sind. Für einen Teil der Überlebenden des Anschlags, welche den Prozess gegen den Attentäter als Raum des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung erlebt haben, bedeutet der 7. Oktober 2023 nicht nur einen Bruch im Sicherheitsgefühl, sondern auch einen Bruch in den Allianzen, die während des Gerichtsverfahrens so mühsam aufgebaut wurden.
Die Stille, die auf den Angriff folgte, sowie das zögerliche oder gar fehlende Verurteilen der Gewalt gegen Juden:Jüdinnen und Israelis, ließen ein Vertrauensvakuum entstehen. Dieser Bruch ging jedoch über das bloße Vertrauen hinaus – er ergriff die tiefsten Schichten unserer psychischen Verfassung.
Für viele Überlebende des Halle-Anschlags, die sich in den vergangenen Jahren durch die Allianzen eine neue Form der Gemeinschaft und des gegenseitigen Schutzes aufgebaut hatten, war diese Stille besonders schmerzhaft. Das Gefühl, verlassen und nicht gehört zu werden, verstärkte alte Wunden, die nie ganz verheilt waren.
Die transgenerationalen Traumata – von der Schoa, wie auch anderen Verfolgungen – wurden durch den 7. Oktober aufgerissen. Viele der Überlebenden aus den Kibbutzim und umliegenden Städten, die angegriffen wurden, trugen diese Traumata in sich oder waren Nachkommen jener, die das Grauen des Holocaust überlebt hatten. Das Schweigen und die zögerliche Reaktion in Europa, insbesondere in den Kreisen, die sich für Menschlichkeit und Gerechtigkeit einsetzen, verschärften den Riss.
Das progressive, weltoffene Fusion Festival an der Müritz ist eines von vielen Beispielen, welches die Brüche zeigt: Noch im November 2023 äußerten die Veranstalter Bestürzung über den Angriff vom 7. Oktober. Drei Monate später, im Februar, bekannten sie sich weiterhin zum Existenzrecht Israels. Doch nach einem Boykottaufruf und wachsendem Druck der Gruppe »Palästina spricht« distanzierten sie sich im Juni von einem klaren antisemitismuskritischen Konsens und veröffentlichten eine Stellungnahme zu der Lage Kriegs.
Als Folge dieser Stellungnahme, sahen wir, eine Gruppe von Überlebenden des Halle-Anschlags, usn dazu gewzungen, unsere Teilnahme an einem geplanten Panel abzusagen. Zu groß war die Sorge, instrumentalisiert zu werden. Und wir sahen uns auch nicht in der Lage, uns in einem Umfeld zu bewegen, in dem israelbezogene Hassrhetorik geduldet werden.
Besonders schmerzhaft war es, als bisherige Verbündete entweder schwiegen oder gar nicht verstanden, wie verletzend das für ihre jüdischen Partner:innen war. Solidaritätsbekundungen blieben oft aus, was in vielen Fällen die Zusammenarbeit innerhalb der bisherigen Allianzen in Frage stellte.
Auch antisemitische Narrative, die während der Corona-Pandemie an Stärke gewannen, haben neuen Auftrieb erhalten. Laut einer aktuellen Antisemitismus-Studie des Landes Nordrhein-Westfalen richtet sich der Hass dabei zunehmend gegen jüdische Institutionen und Einzelpersonen. Besonders erschreckend ist dabei, dass antisemitische Einstellungen in den vergangenen Monaten verstärkt unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen Verbreitung gefunden haben.
Dieses Klima der Feindseligkeit erschwert es Juden:Jüdinnen, in bestehenden Bündnissen aktiv zu bleiben, ohne das Gefühl zu haben, sich für ihre eigene Existenz rechtfertigen zu müssen.
Zersplitterung und Hoffnung: Die Kabbalistische Perspektive
Die Zersplitterung der Allianzen erinnert an ein Konzept aus der Kabbalah: Shevirat HaKeilim, das Zerbrechen der Gefäße. Kurz gefasst, geht es der Tradition nach darum, dass die Gefäße, die das göttliche Licht aufnehmen sollten, unter der Kraft des Lichts zerbrachen. Die Scherben fielen in den Abgrund, vermischt mit Funken göttlichen Lichts.
Diese Geschichte symbolisiert eine Welt im Zustand der Disharmonie – eine Welt, in die das Übel eingedrungen ist. Doch selbst in den Scherben gibt es Funken des Guten, Netzotzot. In der heutigen Welt, die von Unordnung und Spaltung geprägt ist, bleibt die Herausforderung bestehen, diese Funken des Guten zu finden.
Auch wenn die Allianzen nach dem 7. Oktober in weiten Teilen zerbrochen scheinen, gibt es dennoch Momente und Menschen, die diesen Funken Hoffnung weitertragen. Eine Gruppe von Überlebenden des Halle-Anschlags hat in Zusammenarbeit mit Freiwilligen das diesjährige Festival of Resilience unter dem Motto Trotz_Zweifel organisiert. Das Festival soll ein Zeichen setzen – für die Suche nach Bedeutung trotz der Absurdität der Gewalt, die wir erleben.
Wie finden wir jedoch diese Funken in einer Welt, die so sehr von Chaos und Gewalt geprägt ist?
Ich habe während des Prozesses gegen den Attentäter Kraft aus einem Zitat von Rabbiner Abraham Joshua Heschel geschöpft, welches seitdem zu meinem persönlichen Leitsatz geworden ist: »There is meaning beyond absurdity« – Es gibt eine Bedeutung jenseits der Absurdität. Die Absurdität, die uns seit einem Jahr umgibt, ist schier erdrückend. So sehr, dass ich das Bedürfnis empfand diesen Leitsatz zu erweitern, und zwar mit dem Credo von Rachel Goldberg-Polin: «Hope is mandatory” - Hoffnung ist unerlässlich. Rachel kämpfte unermüdlich für die Freilassung ihres Sohnes Hersh Goldberg-Polin, z»l, und anderer Geiseln aus den Fängen der Hamas. Trotz des unfassbaren Verlusts gibt sie den Kampf um die verbleibenden 101 Geiseln nicht auf. Diese beiden Leitsätze gaben mir Kraft – und tun es noch immer – um die Funken inmitten des Chaos zu finden. Sie bilden auch das Fundament für das diesjährige Festival of Resilience, das wir unter dem Motto Trotz_Zweifel gestaltet haben.
Nach dem 7. Oktober sind Zweifel an den Allianzen aufgekommen, die wir über die Jahre hinweg aufgebaut haben. Viele von uns fragen sich, ob die Solidarität, die wir einst erfahren haben, noch existiert. Das Schweigen vieler progressiver Kreise und das mangelnde klare Bekenntnis gegen antisemitische Gewalt haben uns tief enttäuscht.
Gleichzeitig wollen wir uns nicht von konservativen Kräften und Rechtspopulisten vereinnahmen lassen, die Antisemitismus in muslimischen Gemeinden nutzen, um ihre eigenen rassistischen Agenden voranzutreiben. Ja, es gibt Antisemitismus in muslimischen Gemeinschaften. Und nein, Antisemitismus ist kein importiertes Problem. Es ist tief in der deutschen Gesellschaft verwurzelt und hat historische Kontinuität.
Trotz der Zweifel
Im Chaos der Zeit soll es uns ein Imperativ sein nicht zu vergessen, dass der Hass, der gegen eine Gruppe gerichtet ist, sich schnell auf andere Gruppen ausbreitet. Gerade in Zeiten wie diesen ist es umso wichtiger, dass wir uns auf die Stimmen konzentrieren, die weiterhin für Solidarität eintreten. Einige unserer langjährigen Partner:innen aus anderen marginalisierten Communities haben sich deutlich gegen die Gewalt und die antisemitischen Tendenzen in der aktuellen Debatte positioniert.
Diese Funken der Menschlichkeit, die auch in den dunkelsten Momenten sichtbar werden, sind es, die uns Hoffnung geben. Sie bieten die Möglichkeit, unsere zerbrochenen Allianzen zu heilen und gemeinsam gegen Hass vorzugehen. Ich möchte abschließend hier nochmal zu den Worten Abraham Joshua Heschels zurückkehren: »Es gibt einen Sinn jenseits der Absurdität. Seid Euch sicher, dass jede kleine Tat zählt, dass jedes Wort Kraft hat und dass wir alle unseren Teil dazu beitragen können, die Welt zu verbessern, trotz aller Absurditäten, aller Frustrationen und aller Enttäuschungen. Und vor allem denkt daran, dass der Sinn des Lebens darin besteht, das Leben so zu leben, als wäre es ein Kunstwerk.«
Genau deshalb dürfen wir davka jetzt nicht den Kurs verlieren.
Die Autorin ist Therapeutin und überlebte den Anschlag auf die Synagoge in Halle am Jom Kippur 2019.