Wie jedes Jahr versammeln sich viele Dresdner vor der Gedenkstele nahe der Synagoge, um an die Ereignisse rund um den 9. November 1938 zu erinnern: jüdische Bürger, Politiker, Stadträte, Bischöfe, Superintendenten, Mitglieder verschiedener Vereine. Als besonderen Gast begrüßt Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert die Leiterin der Kunstabteilung der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Eliad Moreh-Rosenberg.
Ein paar Stunden zuvor hat Hilbert die interaktive Kunstinstallation »Verschwindende Wand« am Rathaus eröffnet, ein Projekt des Goethe-Instituts: 6000 Holzklötzchen mit Zitaten von Schoa-Überlebenden. Die Besucher sind eingeladen, die Klötzchen herauszuziehen, die Zitate zu lesen und mitzunehmen, damit die Botschaften der Überlebenden weitergetragen werden.
Sachsens Landesrabbiner Zsolt Balla spricht an der Stele das Gebet für die Opfer der Schoa, Kränze und weiße Rosen werden niedergelegt. Nach dem Novemberpogrom 1938 verschleppten die Nationalsozialisten 151 Dresdner ins KZ Buchenwald und misshandelten sie brutal, darunter Gemeinderabbiner Albert Wolf.
GEISTESHALTUNG Es sei politische und zivilgesellschaftliche Aufgabe gleichermaßen, nicht nur an die historischen Ereignisse, sondern immer auch an die dahinterstehende Geisteshaltung zu erinnern, sagt Hilbert. Laut aktuellen Umfragen würden heute immer mehr Menschen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen wollen.
Die starken Sicherheitsmaßnahmen um Stele und Synagoge machen an diesem 9. November jedem klar, in welch einer Situation sich die Gesellschaft derzeit befindet. »Halle war ein Anschlag auf das jüdische Leben und mehr«, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer später bei einer Feierstunde zum 20. Jahrestag der Eröffnung der Neuen Synagoge. »Die Täter greifen uns alle an. Deshalb müssen wir zusammenhalten.«
Am Alten Leipziger Bahnhof in der Dresdner Neustadt soll ein Jüdisches Museum entstehen.
Verschärfte Hygieneauflagen haben die Jüdische Gemeinde gezwungen, die Anzahl der Teilnehmer dieser Jubiläumsfeier deutlich zu reduzieren. Fast wehmütig erinnern sich die Redner in der Synagoge an die Aufbruchstimmung vor 20 Jahren, als sich die Zahl der in Dresden lebenden Juden durch die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion verzehnfacht hatte.
MEILENSTEIN Die Neue Synagoge wurde am 9. November 2001 eröffnet. Trotz klammer Kassen habe er zusammen mit vielen Unterstützern das Projekt seit Mitte der 90er-Jahre vorangetrieben, sagt der frühere Oberbürgermeister Herbert Wagner in seiner Festrede.
Die Eröffnung der Synagoge sei »ein Meilenstein« gewesen »und machte unübersehbar, dass jüdisches Leben in Dresden wieder ein Zuhause gefunden hat«, greift der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Mark Dainow, die Stimmung vor 20 Jahren auf.
Doch von jener Euphorie ist an diesem 9. November in Dresden kaum noch etwas zu spüren. Ein offenes Haus sollte die Synagoge im Stadtzentrum sein. Und sie war es auch, als der heutige Gemeindevorsitzende, Michael Hurshell, vor einigen Jahren nach Dresden kam.
EMPATHIE Aber eine solche Entwicklung habe er sich nicht vorstellen können, sagt er nachdenklich. »Der Weg in die Normalität ist seit Halle infrage gestellt. Die Jüdische Gemeinde hofft auf eine Zeit, in der sie wieder ohne Angst leben kann. Dafür braucht es die Solidarität und die Empathie aller Bürgerinnen und Bürger.«
Die mobilen Barrieren, Polizei und Security widersprechen spürbar dem Wunsch vieler Dresdner Juden, eben nicht eine geschützte Minderheit, sondern Teil der Gesellschaft zu sein.
Hoffnung gibt, dass Sachsens Ministerpräsident Kretschmer und Dresdens Oberbürgermeister Hilbert die vom Dresdner Stadtrat einstimmig beschlossene Initiative für die Gründung eines Jüdischen Museums unterstützen.
Es soll am Alten Leipziger Bahnhof in der Dresdner Neustadt entstehen. Im Januar 1942 begannen von dem ehemaligen Güterbahnhof die Deportationen der Dresdner Juden in die Vernichtungslager.