Wenn Esther Haß die neuen Fenster im Gemeindebüro öffnen will, ruft sie ihren Sicherheitsbeauftragten. Aber nicht, weil das ohne ihn zu gefährlich wäre. Die kleine und zierliche Frau, Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde in Kassel, braucht bloß seine Kraft. »Allein schaffe ich es einfach nicht mehr, die Fenster auf Kipp zu stellen«, sagt sie. Wegen des schweren Panzerglases, das jetzt in alle Türen und Fenster der Synagoge eingebaut wurde.
Wie in allen jüdischen Gemeinden in Hessen wurden seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres auch in Kassel die Sicherheitsvorkehrungen massiv verstärkt. In sämtlichen Räumen gibt es nun Alarmknöpfe, im Apartment des Rabbiners genauso wie in Bibliothek, Büro oder Küche und natürlich im Synagogensaal. Wird der Knopf gedrückt, landet das sofort als Notruf bei der Polizei. Dass das noch neu und ungewohnt ist, zeigen die kopierten DIN-A4-Zettel, die mit Tesafilm neben den Alarmknöpfen angepinnt sind. Sie erklären. Und sie warnen: Wer den Notruf ohne Grund auslöst, muss 350 Euro zahlen.
Kamera Statt einer einfachen Eingangstür gibt es jetzt eine Eingangsschleuse. Wer in die Synagoge kommt und unbekannt ist, muss sich bei Leonid Aleynikov, dem Sicherheitsbeauftragten der Gemeinde, ausweisen. Der Mann, so freundlich wie breitschultrig, sitzt hinter einem Panzerglasfenster mit gesicherter Durchreiche. »Wie in einer Bank«, scherzt er. In seinem wenige Quadratmeter messenden Sicherheitskabuff, das vom ohnehin schon nicht großen Sekretariat abgeknapst werden musste, hat Aleynikov zudem die Bilder der Überwachungskameras im Blick, die zusammen mit Scheinwerfern und Bewegungsmeldern rings um das Gebäude installiert wurden.
Er ist mit den Veränderungen zufrieden. »Ich fühle mich viel sicherer als früher«, sagt er. »Ich kann jetzt alles besser kontrollieren.« Und zumindest eine ganz konkrete Auswirkung der Kameras hat er bereits registrieren können: Auf dem Gehweg vor dem Gebäude liege mittlerweile deutlich weniger Abfall, sagt Aleynikov und lacht. »Ich finde morgens kaum noch leere Pizzakartons.«
Der Charakter der Synagoge hat sich verändert.
Auch viele Gemeindemitglieder, berichtet Esther Haß, seien dankbar für die erhöhte Sicherheit. »Vorher bin ich manchmal gefragt worden: Was ist, wenn hier jemand mit einer Schusswaffe kommt?« So wie in Halle an der Saale, als ein schwer bewaffneter Neonazi an Jom Kippur 2019 versucht hatte, in die Synagoge einzudringen.
Gemeindeleben Der Gemeindevorstand aber sieht die Umbauten trotzdem auch mit einem weinenden Auge. »Wir als Verantwortliche wissen, dass das jetzt als sicher gilt«, sagt Haß. »Aber glücklich sind wir nicht.« Das liegt weniger an den aufwendigen Bauarbeiten, die das Gemeindeleben geraume Zeit zum Erliegen brachten – selbst die Gottesdienste mussten zwei Monate lang ausfallen –, sondern vor allem daran, wie sich der Charakter der Synagoge verändert hat.
Das von dem Frankfurter Architekten Alfred Jacobi entworfene Gebetshaus an der Bremer Straße, errichtet nahe dem Grundstück, auf dem die 1938 von den Nazis zerstörte alte Kasseler Synagoge stand, wurde im Jahr 2000 eröffnet. Es ersetzte einen zu klein und baufällig gewordenen Vorgängerbau aus den 60er-Jahren, die moderne Architektur sollte Offenheit signalisieren. »Wir wollten keinen Stahlgitterzaun ringsum, sondern wir wollten uns öffnen«, sagt Haß. »Diese Offenheit ist jetzt weg.«
Wo früher frei in das Gemeindezentrum hineingeschaut werden konnte, verwehrt nun Milchglas den Einblick. Die Eingangstür wird zudem nicht mehr einfach offen stehen können, wie das sonst im Sommer der Fall war. Nicht einmal einen Briefkasten darf es noch geben. Und wer sich der Synagoge von der dem Eingang abgewandten Seite nähert, sieht stählerne Stacheln, die auf einer hohen Betonmauer nach außen ragen, und dahinter Kameras. Es fällt schwer, dabei nicht an einen Hochsicherheitstrakt zu denken. Einladend? Eher nicht.
fachleute Konzipiert wurden die neuen Sicherheitsmaßnahmen von Fachleuten der Polizei. Um die Umsetzung kümmerte sich in Kassel wie in den anderen neun Gemeinden in Hessen der Landesverband der Jüdischen Gemeinden, das Geld kam von Bund und Land. Auslöser war der antisemitische Terroranschlag von Halle.
Dass solche Maßnahmen nötig sind, bedrückt den Gemeindevorstand.
Dass solche Maßnahmen nötig sind, bedrückt den Gemeindevorstand.
Doch in Nordhessen nicht nur das. Nach dem rechtsextrem motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 hatte die Polizei beim Täter auch Observationsprotokolle der Synagoge gefunden. Mehrfach muss der Neonazi in den Nullerjahren zusammen mit Gleichgesinnten das jüdische Gemeindezentrum beobachtet haben, sie notierten Autokennzeichen, sammelten Namen.
Während der Täter zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, leben die meisten seiner Gesinnungsgenossen von damals nach wie vor in Kassel, frei und ungeläutert. Und bereits 2006 hatten die Rechtsterroristen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« in Kassel den Internetcafébetreiber Halit Yozgat erschossen. Wer ihnen vor Ort half, ist bis heute immer noch ungeklärt.
Notwendigkeit Am Sinn zusätzlicher Schutzvorkehrungen für die Synagoge zweifelt deshalb auch der Kasseler Gemeindevorstand nicht. »Was uns bedrückt«, sagt Esther Haß, »ist etwas anderes: dass solche Sicherheitsmaßnahmen überhaupt nötig sind.« Was, auch das zu betonen ist ihr wichtig, nicht an den Juden liege. Sondern an der Gesellschaft.
Auf seinem Handy zeigt Leonid Aleynikov Fotos, aufgenommen im Herbst des vergangenen Jahres. Draußen auf die Synagoge hatte jemand die Parole »309 lebt!« gesprüht, in roten Lettern.
»Das war wirklich blutrote Schrift«, erinnert sich Haß, und ihr Schaudern ist dabei noch immer zu spüren. Eine unmissverständliche Drohung sei das gewesen, ein Verweis auf das nationalsozialistische Polizei-Bataillon 309, das beteiligt war an der Schoa. Verantwortlich unter anderem für das Massaker an mehr als 2000 Jüdinnen und Juden in Białystok am 27. Juni 1941. Die neuen Überwachungskameras waren an jenem Abend zwar schon installiert. Nur angeschlossen waren sie leider noch nicht.