Noch herrscht die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Im abgetrennten Spielbereich der zum Flüchtlingswohnheim umfunktionierten Industriehalle im Spandauer Nordosten bereiten Yael Dinur, Iris Müller und die anderen Beter der Synagogengemeinde Oranienburger Straße alles vor, um für den Tag gewappnet zu sein: Sie sortieren Spielzeug, verteilen Malsachen sowie Bastelmaterial auf mehreren Tischen.
Plötzlich wird es lebhaft: Rund 30 Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren kommen angerannt, drängeln sich durch die kleine Holztür und begrüßen die Freiwilligen aufs Herzlichste. Offensichtlich kennen sie sich schon länger. »Kein Wunder, schließlich sind wir einmal im Monat hier, um ihnen ein wenig Abwechslung von der Routine in der Notunterkunft zu bieten«, erklärt die junge Israelin. »Und das bereits seit November 2015.«
Mitzvah Day Damals, zum bundesweiten Mitzvah Day, dem vom Zentralrat der Juden initiierten Aktionstag für zivilgesellschaftliches Engagement, hatte man die Flüchtlingshilfe erstmals in den Vordergrund gestellt. »Wir dachten, die Idee ist einfach zu gut, um daraus nur eine einmalige Veranstaltung zu machen«, erinnert sich Dinur. »In der Synagoge fand sich rasch eine Gruppe Freiwilliger, die seither regelmäßig nach Spandau fährt.« Mal sind es drei, manchmal sogar 15 Frauen und Männer. »Wir überlegen uns ständig neue Aktivitäten«, erzählt Iris Müller. »Auf diese Weise wird es nie langweilig.«
Wenn genug Helfer mit von der Partie sind, gibt es sogar das Angebot, ein wenig Deutsch zu lernen. »Das interessiert vor allem die Erwachsenen«, sagt Andrea Mihair. »Die Kinder beherrschen die Sprache oft schon überraschend gut.« Etwas abseits vom Trubel büffelt sie gemeinsam mit sechs jungen Frauen Vokabeln und Redewendungen. All das kommt gut an. Man sieht, wie Mütter und Kinder auf dem Boden hocken und ganz konzentriert eine über zehn Meter lange Papierrolle bemalen – seltene Momente eines entspannten Zusammenseins in einer Umgebung, die ansonsten wenig Privatsphäre und Ruhe zulässt.
konzepte Die Beter der Synagogengemeinde Oranienburger Straße sind nicht die Einzigen, die sich für Flüchtlinge starkmachen. Sie gehören zu einer wachsenden Anzahl engagierter Juden, die Hilfesuchenden aus anderen Ländern mit Rat und Tat zur Seite stehen. Genau deshalb ist es wichtig, sich zu vernetzen, Kräfte zu bündeln und die richtigen Konzepte zu entwickeln. Mit diesem Ziel kamen am Montag etwa 30 jüdische sowie muslimische Sozialarbeiter und Freiwillige zu einem zweitägigen Seminar mit dem Titel »Soziale Arbeit mit Flüchtlingen« in Berlin zusammen. Auf die Beine gestellt wurde es von der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland in Kooperation mit muslimischen Vertretern und der Zentralen Wohlfahrtsstelle (ZWST).
»In den jüdischen Gemeinden haben wir seit der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, also seit mittlerweile 27 Jahren, intensive Erfahrungen mit Integration gemacht«, begrüßte Zentralratspräsident Josef Schuster die Initiative. Auch in muslimischen Moscheegemeinden sei das Thema nicht neu, stelle sich aber seit 2015 in einer neuen Dimension, so Schuster weiter. »Es war sehr hilfreich für beide Seiten, unsere Erfahrungen auszutauschen. So unterschiedlich wir sind, stehen wir häufig vor den gleichen Herausforderungen«, so Schuster. Muslime und Juden seien Minderheiten in Deutschland, die die Unterstützung und den Rückhalt der Mehrheitsgesellschaft brauchen. »Angesichts des steigenden Antisemitismus und der zunehmenden Islamfeindlichkeit ist dies nötiger denn je.«
perspektiven Neben der rechtlichen Situation der Flüchtlinge, die von einem Vertreter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erläutert wurde, ging es vor allem um soziologische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven. Hinzugezogen wurde auch die Expertise von zwei Traumaexperten von IsraAID, die mit der Zentralwohlfahrtsstelle zusammenarbeiten. Als arabischstämmige Israelis bringen sie kulturelles Verständnis sowohl für den Islam als auch das Leben in der westlichen Welt mit.
»Das Thema ist ein spannendes und beschäftigt uns Juden schon sehr lange«, betont Daniel Botmann, Zentralratsgeschäftsführer, und verweist auf die Erfolgsgeschichte der Integration jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Doch nun habe es an Aktualität gewonnen. Nicht zuletzt deshalb, weil seit 2015 mehr als eine Million Menschen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan nach Deutschland geflohen sind – allesamt Länder, in denen die Feindschaft gegenüber Israel und Juden zur Staatsdoktrin gehört. »Daraus ergeben sich zahlreiche Herausforderungen für das Verhältnis von Juden und Muslimen hierzulande«, stellt Botmann fest, wie auch die Chance für die muslimische Gemeinschaft, von den jüdischen Erfahrungen zu lernen und gemeinsam ein neues Kapitel in den Beziehungen aufzuschlagen.
»Denn wir als Minderheiten werden oftmals mit denselben Problemen und Gefahren konfrontiert«, sagt der Zentralratsgeschäftsführer mit Verweis auf den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der AfD oder Forderungen nach einem Verbot von Beschneidung und Schächten.
»Der Arbeit mit den Menschen vor Ort kommt in diesem Kontext eine Schlüsselrolle zu«, betont Aiman A. Mazyek, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland. »Schließlich stehen wir für die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung ein.« Genau deren Werte will man den Geflüchteten vermitteln und nahebringen. »Dazu zählt selbstverständlich auch die Bekämpfung von antisemitischen Feindbildern und das Betonen von Religionsfreiheit«, so Mazyek.
Nachhaltigkeit Anderen brennt vor allem der Aspekt der Nachhaltigkeit ihres Engagements unter den Nägeln, so wie Kay Knauke von der Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg und Vorstandsmitglied bei Studentim. »Die erste Hilfe ist schon geleistet.« Alle Geflüchteten haben zumindest ein Dach über dem Kopf und werden versorgt. »Aber jetzt geht es eigentlich erst richtig los.« Für ihn stellt sich nun die Frage, was von dem Engagement bleibt. »Wurden wir bei unserer Arbeit vor Ort überhaupt als Juden wahrgenommen? Verändern sich dadurch tradierte Feindbilder?« Darauf wünscht er sich Antworten.
Andere wollen wissen, wie man insbesondere geflüchtete Jugendliche gezielter mit Angeboten erreichen kann. »Dafür erhoffe ich mir hier neue Impulse«, so Elif Altundag aus Remscheid, die als Studentin der Sozialwissenschaft zugleich Projektleiterin im Bereich Jugendarbeit beim Zentralrat der Muslime ist. Und Olga Rosow aus Düsseldorf interessiert, wie man es schaffen kann, in den Gemeinden Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen abzubauen, ohne dabei das Bedürfnis nach Sicherheit zu vernachlässigen. »In unmittelbarer Nähe zu unserem Elternhaus entstand eine Flüchtlingsnotunterkunft.« Das weckte erst einige Bedenken. »Was kann passieren, wenn beispielsweise zu Jom Haazmaut dort die israelische Flagge zu sehen ist?«
In Düsseldorf reagierte man präventiv und brachte beide Seiten mit viel Feingefühl rechtzeitig zusammen, was sich positiv auswirken sollte. »Vielleicht können andere von unserer Vorgehensweise lernen.«
Dass Flüchtlingsarbeit nicht immer einfach ist, das wissen alle Beteiligten nur zu genau. »Deshalb ist es wichtig, dass wir miteinander ins Gespräch kommen«, erklärt auch Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat. »Wie hier in diesem Seminar, das sich als ein offenes Forum versteht, wo wir als professionelle Sozialarbeiter und Engagierte unsere Erfahrungen austauschen können.« Denn das Thema bleibt auch in Zukunft brisant.