Milde Frühsommertage, überall Menschen im Gespräch, viele Sprachen, lächelnde Gesichter, Kindergeschrei. Die Szenerie wirkt wie eine ausgelassene Familienfeier: In der Badestadt wird das zwölfte Limmud-Festival gefeiert, zu dem über 200 Jüdinnen und Juden angereist sind, etwa aus den USA, Israel, den Niederlanden, der Schweiz, Österreich und Deutschland.
Was macht das dreitägige Treffen dieser Bildungsorganisation aus? »Es ist vielfältig, partizipativ und motivierend«, sagt Jonathan Marcus aus Berlin. »Hier ist man nicht mehr in der sonst so häufigen Rolle einer religiösen Minderheit, sondern fühlt sich willkommen unter Gleichen, kann sich öffnen und erlebt die Vielfalt des Judentums.« Rebecca aus Kiel ergänzt: »Hier bin ich nicht mehr die exotische Person, die einzige Jüdin im Ort, hier kann ich mich entspannen, es ist wie eine Familie.«
Dass der Veranstaltungsort keine eigene jüdische Gemeinde, keine Synagoge hat, stört die Teilnehmer nicht. Bad Wildungen liege geografisch zentral, biete eine gute Infrastruktur und sei einfach »ein schönes Städtchen mit viel Natur«, sagt Judith Ederberg, eine der Organisatorinnen. Man fühle sich wohl hier, sodass die hessische Kleinstadt vielleicht nicht zum letzten Mal Austragungsort des Festivals sei.
Das Fest lebt die ganze Vielfalt jüdischen Lebens. Verschiedene Nationalitäten, Sprachen, religiöse Strömungen kommen hier zusammen, um sich ohne feste Vorgaben auszutauschen und voneinander zu lernen. Das Programm wird auf Englisch, Russisch und Deutsch durchgeführt, es gibt drei verschiedene Gottesdienste. Angeboten werden etwa Spielen, Malen und Tanzen für Kinder sowie Workshops für Erwachsene mit einer großen thematischen Bandbreite.
»Warum ist Gott gegen Unterhosen?«
Sie reichen vom Thema Antisemitismus, dem jüdischen Bildungswesen und Möglichkeiten muslimisch-jüdischer Solidarität bis hin zu teils ironischen, teils brandaktuellen Fragen wie »Warum ist Gott gegen Unterhosen?«, »Kann eine KI Schabbat feiern?« oder »Brauchen wir eine jüdische Umweltethik?«.
Angeboten werden diese Workshops von freiwilligen, ehrenamtlichen Personen. Dazu zählen Studierende, Rabbiner, Sozialwissenschaftler, Übersetzer, zudem auch eine Ökotheologin und eine »selbst ernannte Biersommelière«. Seit 2006 gibt es Limmud, dessen Wurzeln in Großbritannien liegen, auch in Deutschland.
Aber wohl noch nie war das Lernfestival seither so überschattet wie von dem Überfall der Hamas am 7. Oktober des vergangenen Jahres. So fröhlich das Festival auch verläuft, dieses Ereignis und der Gaza-Krieg beschäftigen und belasten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr. »Es gibt eine lange Tradition des Judenhasses, etwa die Kreuzzüge oder Pogrome in ganz Europa. Lange definierten wir uns als die zweite Generation nach der Schoa. Aber jetzt sind wir die erste Generation nach der Katastrophe des 7. Oktober«, beschreibt Rabbiner Walter Rothschild aus Berlin die Gefühlslage. Man sei angesichts des wiedererstarkenden, weltweiten Judenhasses nun auf der Suche nach Antworten.
Seit 2006 gibt es Limmud, dessen Wurzeln in Großbritannien liegen, auch in Deutschland
Judith Kessler aus Berlin ergänzt, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine oder die Erfolge rechtsextremer Parteien bei der jüngsten Europawahl hätten sie überrascht: »Seit dem Mauerfall dachten wir optimistisch, die Menschen hätten aus der Geschichte gelernt, es geht vorwärts. Nun aber haben viele das Gefühl, ein ganzes System, die westliche Welt bricht zusammen, so wie nach dem Ersten Weltkrieg. Und den Juden wird wieder die Schuld an allem zugeschoben.« Daniela aus Düsseldorf ergänzt, autoritäre Staaten wie der Iran sowie Lügen und Demagogie gefährdeten das ganze demokratische System. Und Dvora Nekrich aus Kassel fasst zusammen: »Wir dachten, der Holocaust wiederhole sich nicht, und dann kam der 7. Oktober. Wir suchen einfach nur Sicherheit!«
Das Bild vom gepackten Koffer, auf dem man sitze, verneinen die meisten der angesprochenen Limmud-Teilnehmer.
Man sei jetzt zutiefst verunsichert, sagt Rebecca aus Kiel. Dabei sei sie doch selbstverständlich auch Deutsche, lebe seit ihrer Geburt hier. Sie wisse, wie schnell Gesellschaften kippen könnten, und habe daher vorsichtshalber auch eine zweite Staatsbürgerschaft. Derzeit gibt es zwei scheinbar gegensätzliche Trends: Israelis reisen nach Deutschland, um hier sicher leben zu können. Und Juden in Deutschland gehen nach Israel, um sicher und frei ihr Jüdischsein leben zu können. Das Bild vom gepackten Koffer, auf dem man sitze, verneinen aber die meisten der angesprochenen Limmud-Teilnehmer.
In diesem geschützten Festivalraum bieten die Polizei und ein Sicherheitsdienst Schutz. Das Festival strahlt ein liberales, offenes, tolerantes Klima aus. »Hier kommen auch keine extremen Vertreter des Judentums hin«, sagt Walter Rothschild. »Man trifft hier alte Bekannte, schließt neue Kontakte, möchte den eigenen Horizont erweitern. Gerade für Juden aus kleinen Gemeinden ist das wichtig. Es ist wie ein kleines Abenteuer. Hier sind wir unter uns.« »Judentum ist so viel mehr als Antisemitismus, es ist eine Kultur, eine Religion, Familie, eine Sprache, Essen. Ich bin einfach so aufgewachsen, es ist meine Mischpoche, meine Identität«, sagt Rebecca.
Das Festival strahlt ein liberales, offenes, tolerantes Klima aus
Mit den anderen Festivalbesuchern feiert sie den Schabbat, es ist der längste des Jahres. Daniel Neumann, Vorsitzender des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen, unterstreicht in seinem Grußwort die Bedeutung des Lernens im Judentum, was in Zeiten medialen und technischen Wandels umso wichtiger sei. Er schätze das Graswurzelprinzip von Limmud, das dem Hass auf Juden die Diskussion, den Dialog und das Ringen um eine gemeinsame Zukunft entgegensetze.
Bildung für alle zugänglich zu machen, gemeinsam auf Augenhöhe voneinander zu lernen und im Ehrenamt zu arbeiten, sei ein Markenzeichen von Limmud, unterstreicht dessen Vorsitzender David Schapiro aus Potsdam. Er freue sich über die vielen Teilnehmer aus ganz Deutschland, die unterschiedlichen Themen in den Workshops, oft präsentiert von neuen Gesichtern – und dies umso mehr nach einem personellen Umbruch und Neuanfang im Vorstand.
Bad Wildungens Bürgermeister Ralf Gutheil (SPD) lobt, wie wichtig diese Arbeit ist, denn der Ausgang der Europawahlen habe ihn ebenso erschrocken wie die vielen »propalästinensischen« Demonstrationen in Deutschland.
Bad Wildunger Juden, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen und hierherzogen, waren übrigens ebenfalls zum Festival eingeladen. Für sie ist es ein ganz besonderes Angebot, sich für ein paar Tage in einem »Jewish space« zu bewegen, also einem Raum, der Möglichkeiten der Begegnung zwischen verschiedenen Ausprägungen des Judentums schafft. David Schapiro erklärt, es gehe bei dem Festival primär um den innerjüdischen Dialog, eine Öffnung der Veranstaltung in das nichtjüdische Umfeld sei daher nicht geplant. Die Teilnehmer des Festivals freuen sich auf das nächste Treffen im kommenden Jahr, gern am selben Ort.