Chaos im Gemeindehaus. Um 18 Uhr hätte die Veranstaltung losgehen sollen. Doch die Band, die an diesem Abend spielen soll, ist noch nicht komplett. Sie ist eine halbe Stunde vor Berlin in eine Polizeikontrolle geraten. »Hoffentlich kommen sie«, sagt die leicht verunsicherte Veranstalterin, Svetlana Agronik, mehr zu sich selbst als zu den Gästen, die gerade eintrudeln. Diese vertröstet sie um eine Stunde. Dann werde es spätestens losgehen. »Um die Ecke gibt es einen guten Italiener.«
»Wir fahren ein Auto aus Moldau«, lacht Giselle Claudia Webber. Für die Polizei offenbar Grund genug, etwas genauer hinzuschauen. »Als sie dann noch unseren Bandnamen gelesen haben, haben sie wirklich alles durchsucht.« Webber ist Sängerin der kanadischen Punkband Orkestar Kriminal, die zum ersten Mal durch Europa tourt. An diesem Abend soll sie auf Einladung des Projekts »Impuls« im Gemeindehaus an der Fasanenstraße spielen.
Hektisches Ausladen und Soundcheck
Schließlich erscheinen die restlichen Bandmitglieder. Ein parkendes Auto wird in der Eile leicht vom Tourbus gestreift, hektisches Ausladen, Soundcheck, und los geht es eine knappe Stunde später – wie versprochen. »Tausend Dank für eure Geduld«, heißt es in Richtung des Publikums, bevor die ersten Töne erklingen; vermutlich ist das eine Premiere, dass eine Punkband im Jüdischen Gemeindehaus spielt.
Auch für die Band ist es ein besonderer Abend. »Wir spielen normalerweise in Konzerträumen vor jungen, betrunkenen Menschen, die tanzen und schreien«, erzählen sie lachend. Nicht alle Bandmitglieder konnten an der Tour teilnehmen. Für manche von ihnen fand man kurzfristig Ersatz. Dass sich einige der Musiker erst seit einer Woche kennen, ist nicht zu hören. Auf einer griechischen Baglama, einem Akkordeon, einer singenden Säge und vielen weiteren Instrumenten führen die acht Musiker in verschiedenen Sprachen durch die Geschichten der Unterwelt der »Dirty Thirties«, wie sie die Sängerin bezeichnet.
Bei einem Workshop vor zwölf Jahren habe sie erstmals von jiddischer Untergrundmusik erfahren. »Ich war so froh, Musik gefunden zu haben, mit der ich mich identifizieren konnte.« Diese Lieder aber seien schwer zu finden. Denn »Gangsterlieder werden nicht auf Hochzeiten gespielt«, sagt Webber. Insofern sind sie kaum überliefert.
Dabei muss es thematisch stets um Kriminalität gehen.
Dabei erzählen diese Lieder Geschichten. Die Menschen seien zu der Zeit so arm gewesen, dass ihnen vielfach nichts anderes übrig blieb, als etwa zu stehlen, um nicht zu verhungern, so Webber. Diese Menschen sind zuhauf in Gefängnissen gelandet. Und ihre Erfahrungen fanden ihren Weg in die Musik. Dementsprechend viele »kriminelle Volkslieder« gibt es. Für Webber sind es die Geschichten ihrer Vorfahren, die sie in Erinnerung behalten und wieder mit neuem Leben füllen wollte. Also gründete sie Orkestar Kriminal und interpretierte dieses fast verloren gegangene jiddische Liedgut neu.
Die ungewöhnliche Kulisse an diesem Abend zeugt davon. Im großen Saal der Jüdischen Gemeinde performt die Band frontal zum Publikum gerichtet. Das Publikum wiederum sitzt und lauscht. Interaktionen zwischen Band und den Zuhörern gibt es kaum. Es wirkt, als säße man in einem Kino und schaut einen Film aus einer vergangenen Zeit. Ein Lied etwa erzählt von einer jungen Frau aus Osteuropa. Sie wanderte nach Argentinien aus, wo ihr ein besseres Leben versprochen wurde. Dort aber zwang man sie in die Prostitution.
»Diese Geschichten haben es verdient, erzählt zu werden«
»Diese Geschichten haben es verdient, erzählt zu werden.« Am Anfang standen fünf jiddische Lieder aus den 1930ern. Bei der Recherche habe sich aber schnell gezeigt, was für einen reichen Schatz an Untergrundliedern es überall auf der Welt gebe, sagt die Band.
Diese Geschichten sollen ebenfalls erzählt werden. Also haben sie bald auch nichtjiddisches Liedgut ins Repertoire aufgenommen. Dabei muss es jedoch thematisch stets um Kriminalität gehen, es dürfen keine englisch- oder französischsprachigen Lieder sein, und die Originale müssen öffentliches Eigentum sein, »damit wir niemanden dafür bezahlen müssen«, erklären sie lachend.
Für ihr neuestes Album »Originali« schrieb die Band erstmals eigene Texte.
Für ihr neuestes Album Originali schrieb die Band erstmals eigene Texte. In einem geht es um den »jüdischen Indiana Jones«, Menachem Youlus, einen Rabbiner und Toraschreiber aus Baltimore. Youlus behauptete, er sei persönlich nach Osteuropa, unter anderem nach Auschwitz, gereist, um Torarollen zu finden, die im Holocaust versteckt worden waren, um sie dann zu säubern und als Zeugnis für die Nachwelt zu erhalten.
Um seine vermeintlichen Unternehmungen finanzieren zu lassen, gründete er eine Stiftung und nahm Millionen von Dollar ein. Gleichzeitig verkaufte er die angeblich historischen Torarollen an Synagogen und Gemeinden zu überhöhten Preisen. Später kam heraus, dass er zu dieser Zeit kaum im Ausland war und er die Torarollen tatsächlich bei eBay gekauft hatte. Die Spenden wiederum soll er auf sein privates Konto überwiesen haben, um etwa den Privatschulunterricht seiner Kinder zu finanzieren.
Neun verschiedene Sprachen auf dem Album
Mit dem aktuellen Album erweitert die Band somit ihre Perspektive und bleibt trotzdem ihrem Prinzip treu. Zudem kamen neue Sprachen hinzu. Insgesamt finden sich neun verschiedene Sprachen auf dem Album, darunter Mixtekisch, Paschtu, Bosnisch, Arabisch, Polnisch oder auch Hindi. Um das zu bewerkstelligen, arbeitete die Band eng mit Übersetzern zusammen.
»Sprachen lernt man manchmal, weil man sich in jemanden verliebt; ein andermal durch die Musik«, erzählt die Sängerin. »Ich habe lange mit Muttersprachlern die Aussprache geübt«, so Webber. »Es ist eine schöne Art, durchs Singen Sprachen zu lernen.« Heute spricht sie mehrere Sprachen fließend.
Im Laufe des Abends ist das anfängliche Chaos vergessen. Einzelnen Liedern wird schon bei deren Ankündigung applaudiert. Einige im Saal kennen sie. Ein älterer Herr filmt den kompletten Auftritt der Band mit seinem Handy. Hauptsache, die Geschichten, an die Orkestar Kriminal an diesem Abend erinnert, bleiben der Nachwelt erhalten. Das Prinzip der Band ist aufgegangen. Einer Besuchergruppe, die extra aus Hannover angereist ist, versprechen sie: »Wir kommen wieder nach Deutschland.«