Am Ende des Rundgangs über die kleine Ausgrabungsstätte wagt der Archäologe Torsten Dressler dann doch noch einen Tipp. »70 zu 30, dass wir es finden«, sagt er und blinzelt in die Sonne. Dressler redet eigentlich nicht so gerne über die Chancen, die Konturen einer Synagoge und der Mikwe auf dem Großen Jüdenhof mitten in Berlin freilegen zu können.
Archäologen wie er gelten als bescheidene Menschen, die öffentliche Prognosen eher scheuen. Auch Dressler hätte allen Grund dazu. »Bisher gibt es im gesamten norddeutschen Raum noch keinen archäologisch nachgewiesenen mittelalterlichen Judenhof mit Synagoge und Mikwe«, erklärt der 44-jährige Wissenschaftler der Jüdischen Allgemeinen. Dressler und sein Team jedoch, und das wissen sie ganz genau, stehen jetzt kurz davor, genau ein solches Ensemble zu entdecken. Das wäre nicht weniger als eine kleine archäologische Sensation.
Zentrum Der Große Jüdenhof in Berlin hat eine wechselvolle Geschichte. Er liegt inmitten des historischen Zentrums in Berlin auf dem Parkplatz hinter dem Neuen Stadthaus. Hier treffen sich die Grunerstraße und die Jüdenstraße. Im 13. Jahrhundert entstand der Jüdenhof.
Er nahm ein ungefähr 30 mal 30 Meter großes Areal ein und war als ein geschlossener Vierseitenkomplex ausgebildet. Ausgestattet war dieses Ensemble mit einem etwa 20 mal 20 Meter großen, zentral gelegenen Hof. Der Große Jüdenhof verfügte über eine von Westen in das Areal hineinführende Zufahrt von der Seite der Jüdenstraße. Rings um den Hof gruppierte sich eine kleinteilige, zumeist niedriggeschossige Bebauung.
Auf dem großen Plan, den der Archäologe Dressler ausbreitet, ist das gesamte Areal in Parzellen ausgewiesen, Jüdenstraße 1-11. »Ich schätze, dass hier rund 15 Familien wohnten«, sagt der Archäologe. Er verortet sie allesamt in der Mittelschicht, wenn es so etwas im 13. Jahrhundert schon gegeben hätte. Die Juden, die in diesem damals dicht bebauten Stadtquartier unweit des Moltkemarktes ihre Heimat fanden, waren überwiegend Kaufleute.
Einem Handwerk oder einer vergleichbaren Tätigkeit nachzugehen, war ihnen ja verboten. Der Große Jüdenhof war ein funktionierendes, ins urbane Leben voll integriertes Quartier »und sicher kein Ghetto«, wie Dressler betont. Doch mit den antijüdischen Pogromen zu Beginn des 16. Jahrhunderts und der Vertreibung der jüdischen Gemeinde im Jahr 1577 endete das jüdische Leben an diesem Ort. »Danach haben hier nachweislich keine Juden mehr gelebt«, berichtet Dressler.
Im Alten Jüdenhof, der Name hatte weiter Bestand, ließen sich fortan die sogenannten kleinen Leute nieder, Handwerker, Soldaten und Händler. Zu den Olympischen Sommerspielen in Berlin 1936 und im Vorgriff auf die 700-Jahr-Feier der Hauptstadt im Jahr 1937 wurde das schmale Häuserensemble »Großer Jüdenhof« noch einmal gründlich restauriert. Was nach diversen Bombentreffern im Zweiten Weltkrieg noch von ihm übrig blieb, wurde schließlich in den 50er-Jahren abgerissen.
Ein trister Parkplatz mit einer einsamen Akazie darauf, das ist aus dem insgesamt 1.200 Quadratmeter großen Jüdenhof in der DDR geworden. Ein wahrlich trauriges Schicksal.
grabungen Seit einem Monat graben sich jetzt die Archäologen bis zu zweieinhalb Meter tief hinein in die geschichtsträchtige Erde. »Zunächst haben wir die Keller der Häuser auf der östlichen Seite des Hofes freigelegt. Jetzt machen wir uns an die Gebäude an der Nordseite. Das wird sehr, sehr spannend«, erklärt Dressler voller Vorfreude. Genau hier nämlich, auf den Grundstücken neun und zehn, sollen sich möglicherweise auch die Synagoge und das Ritualbad befunden haben.
Um das nachzuweisen, werden die Archäologen in den kommenden zwei Monaten die gesamte Parzelle dieses Teils des Großen Jüdenhofes freilegen. Sollte es so kommen, wie fast alle an diesem Projekt beteiligten Personen erwarten, »dann könnte man die Vorgeschichte der großen jüdischen Tradition des 18. und 19. Jahrhunderts in Berlin erfassen«, erklärte der Landeskonservator Jörg Haspel anlässlich einer ersten öffentlichen Ergebnispräsentation in der vergangenen Woche auf dem Grabungsgelände. Dort soll übrigens in zwei Jahren eine neue Bebauung folgen.
Doch was passiert eigentlich, wenn Dressler und sein Team bei ihren Grabungen auf jüdische Gräber stoßen? Die dauerhafte Totenruhe gilt doch als unantastbar. Der Archäologe weiß das. Er ist sich jedoch sicher, »dass immer dort, wo es besiedelte Jüdenhöfe gab, keine Gräber zu finden waren«.
Das jedenfalls hätten zahlreiche ähnliche Ausgrabungen gezeigt. Warum soll das ausgerechnet im Berliner Jüdenhof anders sein? Für den »Fall der Fälle« hat Dressler bereits eine Absprache mit der Jüdischen Gemeinde getroffen. »Freilegen, vermessen, dokumentieren, sichern, zudecken, mehr nicht«, genau so würde Dressler vorgehen, wenn er Gräber entdecken sollte. Und natürlich sofort die Jüdische Gemeinde informieren.