Zu einer Risikogruppe zu gehören, ist für niemanden ein angenehmes Gefühl. Doch wer ein bestimmtes Alter erreicht hat oder ohnehin schon gesundheitlich angeschlagen ist, zählt in Zeiten von Corona automatisch dazu. Vor allem für Senioren gilt deshalb die Empfehlung: so wenig Sozialkontakte wie möglich.
Für viele ist das keine einfache Sache, wenn beispielsweise der Besuch der Kinder und Enkel nun auf unbestimmte Zeit ausfallen muss oder stark eingeschränkt wird. Aber auch andere liebgewonnene Gewohnheiten, die wichtig sind, um dem Alltag Struktur und Abwechslung zu verleihen, müssen derzeit hintanstehen.
SPAZIERGANG Und für manchen älteren jüdischen Berliner kehren damit auch einige unangenehme Erinnerungen zurück, so wie bei Manfred Friedländer. »Als Kind war ich oft von der Außenwelt abgeschottet, um Schutz vor den Nazis zu haben«, sagt der 85-Jährige, der im Jeanette-Wolff-Seniorenzentrum der Jüdischen Gemeinde in der Dernburgstraße lebt. »Jetzt ist das Virus der Grund, warum ich seit Wochen kaum Kontakte nach draußen haben kann.«
Für manchen älteren jüdischen Berliner kehren mit der Krisensituation auch einige unangenehme Erinnerungen zurück.
Auch das Leben im Seniorenzentrum hat sich aufgrund der Pandemie stark verändert. »Wir sollen so wenig wie möglich zusammensitzen, und die Gottesdienste zu Schabbat finden derzeit nicht statt.« Die Kontakte zur Familie sind aufgrund der Pandemie ebenfalls reduziert. Mit seinem Sohn trifft sich Friedländer trotzdem, so oft es geht, zum gemeinsamen Spaziergang.
»Bevor das Ganze mit Corona in Berlin so richtig losging, kam meine Tochter vorbei und hat mir erklärt, wie der Videochat auf WhatsApp funktioniert – das wird jetzt ausgiebig benutzt«, berichtet er voller Stolz darüber, die Technik zu beherrschen. Auch ersetzt das Telefongespräch nun so manchen Arztbesuch, der jetzt wegfällt. »Und damit auch die Schwellenangst, die manchmal dabei aufkommt«, so Friedländers Beobachtung. »Das finde ich im positiven Sinne bemerkenswert.«
ABSTAND Die gemeinsamen Aktivitäten mit anderen vermisst Fanny Matov. »Man sitzt nur noch zu zweit an einem Tisch und muss dabei gehörigen Abstand halten«, berichtet die 77-Jährige, die ebenfalls in der Dernburgstraße wohnt. »Alle Angebote wie etwa Bewegungsübungen können derzeit leider nicht stattfinden.« Trotz der Tatsache, dass sie jetzt in ihrem Bewegungsradius mehr als sonst auf das eigene Zimmer eingeschränkt ist, hält sie an manchen Gewohnheiten fest.
»Ich lese weiterhin sehr viel, höre tagsüber meine Konzerte im Radio und gehe nun allein viel spazieren, zum Beispiel zum Lietzensee in der Nähe.« Ihr Motto lautet: »So aktiv bleiben, wie es gerade erlaubt ist, und verhindern, dass man sich womöglich mit seinen Gedanken im Kreis dreht.« Ihren Sohn trifft sie ebenso oft wie vor der Corona-Krise.
Trotz der Tatsache, dass sie jetzt in ihrem Bewegungsradius mehr als sonst auf das eigene Zimmer eingeschränkt ist, hält sie an manchen Gewohnheiten fest.
»Am meisten bedauere ich aber, dass gerade kein richtiger Kabbalat Schabbat möglich ist und wir unsere Traditionen nur sehr eingeschränkt leben können. Auch würde ich mir noch mehr konkrete Informationen seitens der Heimleitung über die beschlossenen Maßnahmen zu unserem Schutz wünschen. Aber irgendwann ist der Spuk ja auch wieder vorbei.«
ENKEL Wer jetzt nicht in einem Seniorenzentrum lebt, ist manchmal umso stärker als sonst auf die Unterstützung seiner Angehörigen angewiesen. »Meine beiden Söhne helfen uns, wo sie nur können«, berichtet der 71-jährige Isak Ronis. »Sie kaufen ein und stellen die Sachen anschließend vor die Tür.« Die Enkel sind dann ebenfalls oft mit dabei. Doch direkten Körperkontakt gibt es nicht. »Wir winken uns alle nur aus der Distanz zu. Familie ist im Moment tabu.«
Der Grund: Seine Frau hatte vergangenes Jahr eine schwere Erkrankung, weshalb jede Infektion eine enorme Gefahr bedeutet. »Ich pflege sie weiterhin und muss daher auch aufpassen, kein Virus mit nach Hause zu bringen.« Die gewohnten Freiheiten fehlen Ronis sehr. »Umso mehr freue ich mich auf den Moment, wieder mit meiner Frau ins Grüne rausfahren zu können und unter Menschen zu sein.« Dann auch mit der Familie.