Es ist ein kalter, aber sonniger Frühlingstag im Städtchen Oranienburg bei Berlin. Vor 70 Jahren fanden russische und polnische Soldaten hier das Grauen vor. 3000 im Konzentrationslager Sachsenhausen zurückgelassene Kranke und Pfleger wurden befreit. Hunderte starben noch Wochen später an Krankheiten, Unterernährung oder Erschöpfung.
Sieben Jahrzehnte danach sind 160 der Überlebenden noch einmal hierher zurückgekehrt. Die vom Bund und dem Land Brandenburg betriebene Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hat ein mehrere Tage umfassendes Programm organisiert. »Wir laden alle Menschen, ob jung oder alt, sehr herzlich ein, diese vielleicht letzte Gelegenheit zu nutzen, um mit den Augenzeugen der NS-Verbrechen ins Gespräch zu kommen«, hatte Günter Morsch, der Direktor der Stiftung, im Vorfeld erklärt. Und es schien, als sei den meisten der etwa 1000 Gäste wie auch den Überlebenden klar, dass es wohl tatsächlich das letzte Mal sein dürfte, dass eine Gedenkveranstaltung dieser Größe mit Zeitzeugen noch möglich ist.
Denn die früheren KZ-Insassen sind heute hochbetagt. So wie Saul Oren. Geboren 1929 als Saul Hornfeld, wuchs er als Spross einer frommen Familie im Schtetl von Jaworzno auf, unweit des späteren Vernichtungslagers Auschwitz. Dorthin wurde er als 14-Jähriger zusammen mit seinem Bruder deportiert. An der Rampe selektierte ihn der Arzt Arnold Dohmen für medizinische Experimente.
Experimente Das rettete Hornfeld zwar vor dem sofortigen Tod in der Gaskammer, dafür wurde der Junge nach Sachsenhausen gebracht, wo Dohmen ihn und andere Kinder für medizinische Experimente missbrauchte. Nur Saul Hornfeld und sein Bruder Mosche überlebten aus der Familie Hornfeld. Saul ging später nach Israel, wo er seinen Namen zu Oren hebraisierte. Nun kehrte er für die Gedenkfeier nach Sachsenhausen zurück. Das KZ »war eine Welt, in der das Böse herrschte«, sagte der Israeli in seiner Ansprache.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zitierte in seiner Rede aus der 1999 erschienenen Autobiografie Orens: »Wir zitterten jeden Tag vor der SS. Wir hatten keinen Zweifel, dass sie uns am Ende als Zeugen ihrer Taten umbringen würden.« Im Anschluss wandte sich der SPD-Politiker direkt an Saul Oren und an Roger Bordage, den Präsidenten des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, sowie alle anderen anwesenden Überlebenden: »Wir verspüren Demut und Dankbarkeit, dass Sie heute an diesen Ort zurückgekehrt sind, um lebendiges Zeugnis zu geben über das furchtbarste Kapitel deutscher Vergangenheit.« Mit Blick auf aktuelle antisemitische und rechtsextreme Tendenzen sagte Steinmeier: »Das ist nicht das weltoffene Land, für das die große Mehrheit der Deutschen steht.« Die Vorfälle zeigten, dass das aktive Erinnern an das menschenverachtende NS-Regime noch lange nicht zu Ende sei.
Fast zeitgleich fand eine weitere Gedenkveranstaltung etwa 50 Kilometer weiter nördlich statt. In Fürstenberg, im früheren KZ Ravensbrück, waren ebenfalls Überlebende, Politiker und Gäste zusammengekommen. Von den dort einst inhaftierten über 150.000 Menschen, darunter überwiegend Frauen, starben nach Angaben der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten mehr als 25.000 Frauen und 2500 Männer.
Solidarität Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) mahnte: »Wir dürfen nicht schweigen, wenn wir Zeuge werden von Rassismus, Antisemitismus, Extremismus.« Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) sagte mit Blick auf heutige Flüchtlinge: »Es ist unsere Verpflichtung, nicht nur aus der Geschichte, sondern aus unserer grundlegenden Menschlichkeit heraus solidarisch zu handeln und Mitmenschlichkeit und Toleranz zu zeigen.«
Herta Iris Avri, eine Überlebende des KZ Ravensbrück, war eigens aus Israel angereist. Als das Frauen-KZ 1945 befreit wurde, war sie eine der jüngsten Häftlinge gewesen. »Heute bin ich eine der Ältesten«, konstatierte Avri. Sie kam zusammen mit Angehörigen nach Brandenburg. Alleine wäre die Reise für die im Rollstuhl sitzende zierliche alte Dame nicht zu bewältigen gewesen. »Ich komme gerne her«, erzählt sie und räumt zugleich ein: »Aber es ist schwer.« Und es war klar, dass sie damit nicht nur ihre körperlichen Gebrechen meinte, sondern vor allem die emotionale Belastung. »Ich träume immer noch davon – und dann schreie ich.« Leise stellte die 84-Jährige fest: »Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass ich hierherkomme.« Sie wolle sich verabschieden.
Zum Abschluss des Gedenkens gingen Herta Iris Avri und ihre einstigen Mithäftlinge zum Schwedtsee, in den die SS damals die Asche der Toten gekippt hatte. Mit ins Wasser geworfenen Rosen ehrten die Überlebenden die Zehntausenden Ermordeten.