Im provisorischen Gemeindedomizil, der Alten Feuerwache in der Werner-Seelenbinder-Straße, ist Jewgeni Kutikov seit Jahren fast täglich anzutreffen. Er berät spontan in juristischen, sozialrechtlichen und lebenspraktischen Fragen – so gut es eben geht. Manchmal wird die Zeit knapp. Doch niemand verlässt Kutikovs Büro ohne ein aufmunterndes Wort.
Kutikov – von vielen einfach nur »Shenja« genannt – ist der neue Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Potsdam e.V. Sein langjähriger Vorgänger Michail Tkach hat letztens seinen 80. Geburtstag gefeiert und den Staffelstab übergeben. Sie sind ein eingespieltes Team, und so bemerkt der neue Vorsitzende: »Eigentlich hat sich nichts geändert, wir haben nur die Rollen getauscht.« In kurzen Abständen klingelt das Bürotelefon. »Die Anrufe teilen wir uns natürlich auch gerecht auf«, scherzt Kutikov weiter.
Weißrussland Der 1960 im weißrussischen Gomel geborene freundliche Mann mit der ruhig-beharrlichen Klartext-Stimme lebt seit 23 Jahren in Potsdam. »Mitte der 90er-Jahre sind wir nach Deutschland gekommen, meine Eltern hatten diese Entscheidung schon vorher getroffen.« Kutikov ist – wie seine Frau Irina auch – studierter Bauingenieur und Pädagoge. Die Töchter Julia und Caroline hat es ihrerseits zur Sozialpädagogik und Medizintechnik hingezogen.
»Mit Technik habe ich auch immer noch viel zu tun«, sagt der Vorsitzende und lacht, »aber eher im Privaten. Den Bastelkeller in unserer Potsdamer Wohnung möchte ich nicht missen.« Gibt es im Haushalt der Gemeindemitglieder Probleme mit Computer oder Laptop, wird Shenja gern zu Rate gezogen.
Gleich nach seiner Ankunft in Potsdam ist Jewgeni Kutikov Mitglied der Jüdischen Gemeinde geworden. In die Vorstandsarbeit ist er dann allmählich hineingewachsen. Es ist ihm fremd, sich in Szene zu setzen, doch er verfügt über ein großes organisatorisches Talent.
In seiner Gemeinde sollen sich Juden wohlfühlen, wünscht sich Kutikov.
Kutikov sieht die Gemeinde als einen Ort, an dem sich alle Potsdamer Juden wohlfühlen sollen – egal, welcher religiösen oder auch säkularen Richtung sie sich zurechnen. »Die Gemeinde ist Verein und religiöse Gemeinschaft zugleich, und natürlich verstehen wir uns als Einheitsgemeinde. Jeder Jude und jede Jüdin sind hier willkommen. Doch wie sie ihre Religion dann hier leben und gestalten wollen, ist ihre eigene, individuelle Sache.«
Aufgaben Besondere Prämissen für die Gemeindearbeit der kommenden Jahre will Jewgeni Kutikov nicht benennen. »Viele Aufgaben haben für mich gleichrangige Bedeutung«, erläutert er. »Eine gute Arbeit und Begleitung für unsere älteren Mitglieder sind beispielsweise genauso wichtig wie die Unterstützung des Jugendzentrums ›Lifroach‹.« Es ist seit Langem eine Erfolgsgeschichte und gibt den rund 400 Mitgliedern der Potsdamer Gemeinde Mut für die Zukunft.
»Hierher kommen Teenager und junge Erwachsene gleichermaßen gern. Natürlich wollen die jungen Leute einen attraktiven Zeitvertreib, dazu gehören auch Tanzen, Sport, Musik und Party. Es wird ihnen aber auch viel an jüdischer Tradition vermittelt, teilweise geschieht dies auch untereinander. Einige junge Leute besucht ›Lifroach‹ auch dann noch, wenn sie weggezogen sind, woanders studieren oder Familien gegründet haben«, erzählt Kutikov.
Viele Israelis, die es nach Berlin zog, leben in Potsdam.
Vom Zuzug zahlreicher Israelis nach Berlin profitiert auch Potsdam, denn auch hier sind einige von ihnen heimisch geworden. »Wir zählen so um die 20 israelischen Familien in der Stadt. Die meisten haben Kinder, interessieren sich für organisiertes jüdisches Leben, und zusammen mit Rabbi Nachum Presman tun wir unser Bestes, sie willkommen zu heißen.«
Synagoge Bleibt noch das ungelöste Synagogenproblem. Schon 2012 sollte ein jüdisches Bethaus in der Potsdamer Innenstadt nahe des Stadtschlosses seine Pforten öffnen. Inzwischen gibt es weitgehenden Konsens über den geplanten Bau. »Allen Beteiligten ist klar, dass wir zu einem Ergebnis kommen müssen, und der zeitliche Rahmen ist so zu halten, dass die Synagoge 2022 auch wirklich eröffnet werden kann«, sagt der Vorsitzende. »Über Details der Fassadengestaltung wird noch diskutiert.« Das Äußere soll etwas Markantes, Unverkennbares ausstrahlen. »Ich denke, wir sind da auf einem guten Weg.«
Kutikov schaut auf die Uhr. Drei Auswärtstermine stehen an. Im Flur warten Gemeindemitglieder mit dringenden Fragen. »Shenja« wird seine Mittagspause wohl wieder einmal abkürzen müssen.