Solly Ganor ist den Münchnern von heute durch mehrere Begegnungen bekannt, zum Beispiel im Februar dieses Jahres durch seine Fotoausstellung über das Schicksal jüdischer Kinder aus Kaunas in der NS-Zeit. Doch der Schoa-Überlebende und Autor des Buches Das andere Leben: Kindheit im Holocaust hat noch weit engere Bindungen an München.
Nach seiner Befreiung durch die Amerikaner lebte er drei Jahre lang in der Stadt. Die Erinnerung an diese Zeit hat er in seinem jüngsten Buch beschrieben. Aufleben 1945, erschienen im P. Kirchheim Verlag, wurde in der vergangenen Woche von der Stiftung Bayerische Gedenkstätten und dem Verlag im Münchner Kunstpavillon am Alten Botanischen Garten vorgestellt. Bislang ist nur eine kleine Vorauflage erschienen, wie Verleger Peter Kirchheim sagte. Die Handelsauflage erscheint Ende Oktober.
Tagebuch Solly Ganor war gerade 13 Jahre alt, als die Juden im litauischen Kovno nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion zunächst in Ghettos gezwungen wurden. Zwangsarbeit und Konzentrationslager, verbunden mit Hunger, Erschöpfung und ständiger Todesangst präg- ten den Alltag. Schließlich kam er in die Außenlager des KZ Dachau und wurde gemeinsam mit seinem Vater am 2. Mai 1945 auf dem Todesmarsch bei Waakirchen in Oberbayern befreit. Bereits im Ghetto hatte Solly Ganor ein Tagebuch geschrieben.
Dieses hatte er allerdings vernichten müssen, um nicht in noch größere Lebensgefahr zu geraten. Die hierin festgehaltenen Erinnerungen und auch die folgenden Erlebnisse blieben jedoch fest in seinem Gedächtnis verankert. Nach der Befreiung schrieb er alles nieder. Das Schreiben sollte ihn sein Leben lang begleiten – in Buchform ebenso wie in zahlreichen Essays und Beiträgen für Zeitschriften.
Doch Sprache hatte für Ganor noch eine andere Bedeutung: Er war aufgewachsen mit mehreren Sprachen von Russisch bis Hebräisch und hatte im Ghetto und den Lagern noch andere dazugelernt. So war es wenig verwunderlich, dass er nach der Befreiung die Chance bekam, für die Amerikaner zu dolmetschen. Er wurde unter anderem dem Screening-Team der Amerikaner zugeteilt, das SS-Leute, Nazis und Kollaborateure aufspürte, die sich unter die ehemaligen KZ-Häftlingen in den DP-Lagern gemischt haben. Seine Sprachkenntnisse helfen ihm dabei ebenso wie sein Eingebundensein in jüdisches Leben und Tradition von Geburt an.
Dass er als Übersetzer und Dolmetscher sofort eine Aufgabe gefunden hatte, gab Solly Ganor viel Selbstbewusstsein. »Ich war gerade 17 Jahre alt. Von Natur aus bin ich ziemlich optimistisch. Gleich nach der Erniedrigung des jüdischen Volkes bin ich plötzlich ein Soldat und kam in die olympische Höhe der amerikanischen Armee.« Die Gefühle eines 17-Jährigen im Detail seien schwer zu beschreiben, ergänzt der heute 82-Jährige.
Sederabend Der junge Mann sah die befreiten Juden in den DP-Lagern. Er erfuhr, wie die deutsche Bevölkerung in und um das zerbombte München lebte. Er war beim ersten Sederabend nach der Befreiung dabei, hat den Wiederaufbau der Israelitischen Kultusgemeinde miterlebt. Nach drei Jahren zog Solly Ganor nach Israel, half beim Aufbau des jungen Staates mit. Er ging zur Handelsmarine, wo er die Karriereleiter bis zum Kapitän emporstieg Mehrere Jahre lebte er später in den USA, kehrte aber wieder nach Israel zurück.
Trotz aller vielseitigen und gegenwarts- und zukunftsbezogener Engagements bleiben die Jahre der Schoa tief im Gedächtnis. Er schreibt darüber. Doch das ist ihm nicht genug. Er will die Verantwortung des Erinnerns auch dann gewahrt wissen, wenn die Zeitzeugen selbst diese Aufgabe nicht mehr im derzeitigen Umfang oder auch gar nicht mehr wahrnehmen können. Und er trifft auch jüngere Menschen Es sind Kristin Martini und Thomas Darchinger. Sie engagieren sich gemeinsam mit Solly Ganor für das Projekt »Das andere Leben«.
Der Titel seines Buches hat dieser deutschlandweiten Bildungsinitiative den Namen gegeben. Kristin Martini ist für die Projektsteuerung verantworlich. Der Schauspieler und Regisseur Thomas Darchinger sorgt dafür, dass die Botschaft Ganors die Jugendlichen nicht nur intellektuell, sondern auch gefühlsmäßig erreicht. Der Adolf-Grimme-Preisträger Darchinger hat den Schoa-Überlebenden vor fünf Jahren kennengelernt. In diesem Jahr ist das gemeinsame Projekt entstanden. Er begleitet Ganor bei seinen Lesungen. Und geht inzwischen auch alleine auf Tour.
Dann muss Darchinger den Part des Überlebenden ausfüllen. Das heißt, mit den Jugendlichen zu sprechen, Fragen zu beantworten und ihnen zu helfen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Dinge kritisch zu hinterfragen und andere Meinungen zu tolerieren. Nur so, davon sind alle drei überzeugt, kann die Freiheit und Demokratie geschützt werden.
Vierte Generation Solly Ganor hat zudem die Erfahrung gemacht, dass gerade die vierte Generation nach der Schoa beziehungsweise nach Hitler-Deutschland besonders aufgeschlossen ist und wissen will, was ihre Vorfahren erlitten oder getan haben.
Es sei eine schwierige Gratwanderung, das Verantwortungsgefühl zu wecken aber nicht auf ein Schuldgefühl zu bauen. Deswegen sagt Ganor: »Es gibt nur zwei Worte, die wichtig sind Freiheit und Demokratie. Eigentlich ist es nur ein Wort. Freiheit, denn ohne Demokratie gibt es keine Freiheit!«
www.das-andere-leben.de