Als Patrice Kharats Anfang der 2000er-Jahre in Duisburg aufwuchs, war das Geld auch in ihrer Familie manchmal knapp. »Wir waren nicht wirklich arm, aber ich habe oft einen Unterschied zu meinen Klassenkameraden gespürt«, erzählt die 25-Jährige. Ihre Eltern sind 1992 aus der Ukraine nach Deutschland ausgewandert. »Während andere jeden Sommer in den Urlaub flogen, konnten wir uns das nur alle paar Jahre leisten.«
Kharats weiß daher, wie sensibel Kinder für solche Unterschiede sind. Heute leitet sie das Jugendzentrum Tikwatejnu in ihrer Heimatstadt. Auch hier gibt es einzelne Kinder, deren Eltern auf Sozialhilfe angewiesen sind.
AUSGRENZUNG Kinderarmut ist eines der drängendsten Probleme in Deutschland. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung von Anfang des Jahres zeigt: Jedes fünfte Kind gilt als armutsgefährdet. Das sind 2,9 Millionen Minderjährige, die in Familien mit einem Einkommen von unter 60 Prozent des Durchschnitts leben. Für die Betroffenen bedeutet das häufig gesellschaftliche Ausgrenzung und schlechtere Bildungschancen. Welche Rolle spielt Kinderarmut in der jüdischen Gemeinschaft? Was tun die Gemeinden, um ärmeren Familien unter die Arme zu greifen?
Die ZWST gestaltet alle Angebote für junge Menschen sozial verträglich.
»Natürlich ist Armut ein Thema bei uns«, sagt Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Die Organisation ist ein Zusammenschluss der jüdischen Wohlfahrtspflege. Schuster betont zunächst die positiven Entwicklungen in der jüdischen Gemeinschaft: »Viele Kinder und Enkelkinder der Zugewanderten-Generation aus der ehemaligen Sowjetunion sind vergleichsweise bildungsaffin, aufstiegsorientiert und in der Arbeitswelt angekommen.«
Ab den 90er-Jahren kamen etwa 200.000 russischsprachige Juden nach Deutschland. Laut ZWST beziehen 93 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in dieser Gruppe Grundsicherung. Der wichtigste Grund hierfür ist, dass die Bildungsabschlüsse der häufig hochgebildeten Zuwanderer in Deutschland meistens nicht anerkannt wurden.
Das Armutsproblem ist in den folgenden Generationen ein deutlich kleineres, glaubt der ZWST-Direktor. »Nichtsdestotrotz gibt es auch in der jüdischen Gemeinschaft Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind und damit schlechtere Bildungschancen haben.« Die ZWST habe es sich daher zum Prinzip gemacht, alle Angebote für junge Menschen sozial verträglich zu gestalten. So orientieren sich die Teilnahmebeiträge für die Jugendbildungsaufenthalte, die Machanot, am Einkommen der Eltern. »Unser Anspruch ist, dass kein Kind mangels finanzieller Möglichkeiten zu Hause bleiben muss«, so Schuster.
UNTERSTÜTZUNG Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf unterhält eine eigene Sozialabteilung. »Selbstverständlich gibt es auch bei uns Menschen, die von Sozialleistungen leben«, berichtet Olga Rosow, die die Abteilung seit über zehn Jahren leitet. Statistiken führe die Gemeinde darüber jedoch nicht. »Wir unterstützen betroffene Familien mit Geldern aus unterschiedlichen Quellen«, so Rosow. Wer es sich nicht leisten könne, an Sommerfreizeiten, Klassenfahrten und anderen Aktivitäten der Gemeinde oder der Schule teilzunehmen, erhalte Hilfe. »Besonders für die ukrainischen Kinder, die vor dem Krieg aus ihrer Heimat fliehen mussten, haben wir zahlreiche kostenlose Angebote organisiert.«
Ein Problem sieht Rosow in der Scham, die viele Betroffene empfinden würden. »Die Eltern kommen oft nicht direkt zu uns, sondern erst über unsere Kontakte zu den Kitas und Schulen«, berichtet sie. Es sei für viele eine hohe Hürde, sich Hilfe zu suchen. »Häufig kommen die Menschen erst zu uns, wenn sie bereits hoch verschuldet sind.« Ihre Empfehlung lautet: bei Problemen so früh wie möglich eine Beratung aufsuchen!
Die Idee, armutsgefährdeten Menschen die Teilnahme an der Gesellschaft zu ermöglichen, liegt tief in der jüdischen Ethik verankert. Auch die ZWST hat sich dem Prinzip der »Zedaka«, Hebräisch für »Wohltätigkeit« oder »Gerechtigkeit«, verschrieben. Auf ihrer Website schreibt die ZWST dazu: »Wohltätig zu sein heißt, Hilfe nicht nur in Form von Almosen zu leisten, sondern im Sinne einer ausgleichenden Rechtsordnung.«
selbstverständnis Ihrem Selbstverständnis stellt die ZWST ein Zitat aus dem 5. Buch Mose voran: »Wenn ein Armer in deiner Mitte ist, so verhärte nicht dein Herz und verschließe nicht deine Hand vor deinem armen Bruder. Geben sollst du ihm wiederholt, und dein Herz sei nicht böse, wenn du ihm gibst.«
Für die ZWST bedeutet ihr Engagement gegen Armut auch, an die Politik zu appellieren. Derzeit plant die Bundesregierung unter Federführung der Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) eine Kindergrundsicherung. Verschiedene Leistungen sollen in dieser gebündelt und damit die Beantragung vereinfacht werden.
Auch die Berechnungsgrundlage für die Zuwendungen soll erneuert werden.
Auch die Berechnungsgrundlage für die Zuwendungen soll erneuert werden. Im Ergebnis könnten armutsgefährdete Familien deutlich entlastet werden. Derzeit wird die Ausarbeitung des neuen Gesetzes jedoch durch einen Streit über die Höhe der finanziellen Ausstattung verzögert.
ZUKUNFT Zusammen mit anderen Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und weiteren Organisationen hat sich die ZWST daher an die Regierung gewandt. »Kinderarmut ist in Deutschland weit verbreitet und hat zuletzt ein neues Rekordhoch erreicht«, so die Unterzeichner in ihrem Aufruf. Sie drängen »auf ein Ende des Stillstands bei den notwendigen Arbeiten für eine armutsfeste Kindergrundsicherung«. Auch wenn die jüdische Gemeinde nicht mehr als andere Bevölkerungsgruppen von Armut unter Minderjährigen betroffen ist – auch für sie würde die Kindergrundsicherung einen sozialen Fortschritt bedeuten.
Im Jugendzentrum Tikwatejnu wird armutsgefährdeten Kindern ebenfalls von der Gemeinde finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt. Leiterin Kharats findet: »Kinder sollten aufgrund der Familiensituation nicht leiden.« Auch beim Thema Mobbing hat sie eine klare Haltung: »Wir haben da null Toleranz.« Jeder sei im Jugendzentrum willkommen. Dass Kinder wegen ihres sozioökonomischen Hintergrunds geärgert wurden, habe sie in ihrem Jugendzentrum noch nicht erlebt.
Für die jüdische Gemeinschaft hat diese Überzeugung eine besondere Relevanz, glaubt Kharats: »Die Kinder sind die Zukunft der Gemeinde.«