Krieg

Für die Kinder

Für Emil ging ein Traum in Erfüllung: Im September konnte er endlich nach Israel aufbrechen, um ein Internat südlich von Tel Aviv zu besuchen. Voller Freude ließ er seine Heimat, ein Dorf bei Emmendingen, hinter sich, um drei Jahre in Israel zu lernen und danach seinen Abschluss zu machen. So der Plan.

Doch am 3. Oktober kam die erste Ernüchterung: Als der 15-Jährige mit seinem Surfbrett unter dem Arm aus dem Wasser kam, stolperte er am Strand unglücklich und brach sich den Fuß. Er kam nach Netanya ins Krankenhaus, wo er operiert wurde. Mit einer Schiene, die er sechs Wochen lang tragen sollte, konnte er entlassen werden. Freunde seiner Familie, die in Tel Aviv leben, boten sofort an, dass er bei ihnen wohnen kann, bis er wieder mobiler ist.

Doch am 7. Oktober änderte sich alles. Da die Familie Cohen über keinen Schutzraum in ihrer Wohnung verfügt und der nächste Bunker etwa 15 Minuten zu Fuß entfernt ist, mussten sie bei Luftalarmen im Treppenhaus ausharren. Das beunruhigte Emils Eltern Julia und Dominik Pastak. Sie wollten, dass ihr Sohn so schnell als möglich zurückkommt und die Freunde gleich mitbringt. »Wir haben hier ein großes Haus gemietet, in dem wir mit unseren vier Kindern leben«, sagt Dominik. Da sei auch Platz für Katja und Orion mit ihren drei Kindern. Nun leben sie zu elft zusammen.

»Wir unterstützen einander und reden viel über unsere Sorgen und schweren Gedanken«, sagt Julia Pastak. Das tue allen gut. Gemeinsam schauen sie die beunruhigenden Nachrichten. Katja hat gerade mit ihrer Mutter telefoniert, die immer noch in Israel lebt. Sie erzählt ihrer Tochter, wie es für sie als Kind zur Zeit des Libanonkrieges war. »Ich hatte eine wahnsinnige Angst, und meine Mutter durfte nicht weggehen.«

Die Familie startete eine Crowdfunding-Kampagne.

In diesen Tagen hat sie immer wieder ein schlechtes Gewissen. »Viele kehren nun zurück – und wir haben unser Land vorübergehend verlassen. Wir dürfen es doch nicht im Stich lassen – aber ich muss meine Kinder schützen.« Dass es ihnen gut geht, sei für sie am wichtigsten. In Süddeutschland fühlen sie sich sicher. »Wir leben in einer Bubble, fernab von Alarmen.« Katja ist Lehrerin in Israel, Orion bewirbt sich gerade. Alle sieben Kinder spielen miteinander, obwohl sie keine gemeinsame Sprache haben. Aber ihre Kinder vermissen ihre Freunde und ihre eigenen vier Wände. »Israel ist unser Zuhause und bleibt es auch«, sagt die 32-Jährige.

»Wir kennen uns aus unserer gemeinsamen Zeit in Berlin«, sagt Dominik Pastak. Beide Familien haben mehrere Jahre dort gelebt und sind sich bei Freunden begegnet. Auch nachdem die Cohens nach Israel gezogen sind und Pastaks nach Baden-Württemberg, blieben sie in Kontakt. »Wenn wir in Israel waren, haben wir sie immer besucht.«

Katja stammt aus der Ukraine, zog aber als Sechsjährige mit ihrer Familie nach Israel. Orion besitzt die doppelte Staatsbürgerschaft, da seine Großeltern ursprünglich aus Berlin stammen und seine Mutter in Berlin lebt. Dieser Pass hilft in der aktuellen Situation, denn sonst müssten sie ein Touristenvisum in Anspruch nehmen, das nur 90 Tage gültig wäre. Ihr Sohn Alex ist mit einem Jahr der Jüngste der Familie, Lennon ist vier und Oliver sieben Jahre alt.

»Wir leben in einer Bubble, fernab von Alarmen«, sagt Katja.

Da es in Israel derzeit keinen Präsenzunterricht an Schulen gibt, kann Katja ihre Schüler in Israel vom Breisgau aus unterrichten. Orion arbeitet in der IT-Branche und bewirbt sich gerade auf mehrere Stellen. Julia ist Hebamme und wollte nach ein paar Jahren Berlin wieder in ihre Heimat zurück. Als Dominik, der Gesundheitspädagoge ist, einen Job in Freiburg gefunden hatte, wurde das möglich. Seit vier Jahren wohnt die Familie dort und ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Emmendingen.

»Als feststand, dass alle so rasch wie möglich nach Deutschland fliegen sollen, haben wir eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um das Geld für die Flüge unserer Freunde zusammenzubekommen«, sagt Dominik. Und so konnte Emil mit der Familie kurz nach dem Angriff der Hamas wieder nach Deutschland fliegen. In seinem Jugendzimmer wohnen nun Katja und Orion mit ihren Kindern. »Ich habe Emils Bett und seinen Schreibtisch herausgeholt und ausklappbare Betten hingestellt. Es ist ein großes Zimmer mit einem eigenen Bad«, sagt Dominik. Statt mit seinen Klassenkameraden in einem Zimmer zu sitzen, sieht Emil sie nun online. Per Zoom nimmt er am Unterricht teil. Die Schüler des Internats waren nach dem Anschlag schnell in den Norden Israels geschickt worden, konnten mittlerweile aber wieder zurückkehren.

RIESENTRAUM Auch für Miriel ist ein »Riesentraum« geplatzt. »Als wir von dem Überfall hörten, wollten wir, dass sie sofort zurückkommt. Sie wollte aber nicht«, sagt ihr Vater Boris Schulman aus Frankfurt. Wie Emil war auch sie im September nach Israel gereist, um in Ayanot zur Schule zu gehen. Sie mussten die 16-Jährige regelrecht überzeugen, den Rückflug anzunehmen. Boris und seine Frau Nicole überredeten seine Schwägerin und ihre Schwester Aline, dass sie mit ihren beiden kleinen Kindern nach Frankfurt kommen soll. »Nun sind wir alle zusammen in unserem Haus, das glücklicherweise groß genug ist.« Denn der Geschäftsmann und die Kita-Leiterin haben vier Kinder im Alter von zehn bis 16 Jahren. Seine Schwägerin hänge etwas in der Luft, beobachtet er. Einerseits möchte sie so schnell wie möglich wieder nach Herzliya, andererseits will sie ihre Kinder schützen. Eigentlich habe sie sich dort sicher gefühlt. »Aber wir haben ihr gesagt, dass sie ihrem Mann nicht helfen kann«, sagt Boris Schulman, denn der ist in Israel geblieben, kocht nun für die Soldatinnen und Soldaten und hilft überall, wo er kann.

Die Jüdische Gemeinde Frankfurt habe die Familie super aufgenommen. Lielle besucht die erste Klasse in der I. E. Lichtigfeld-Schule, und weil sie Deutsch spricht, könne sie ganz normal am Unterricht teilnehmen. Die dreijährige Mia hat Anschluss im Familienzentrum gefunden. Aline hat Freunde aus Israel wiedergetroffen. Da sie in Frankfurt aufgewachsen ist, habe sie noch viele Bekannte. »Wir freuen uns, dass die Drei bei uns sind – auch wenn die Umstände ein Albtraum sind«, so Boris. Sie erhalten nun »Vollpension«, wie der 46-Jährige mit einem Schmunzeln sagt. Dennoch bemerke er, dass Aline traurig sei, wegen des Krieges, weil sie weit weg von ihrem Mann ist, ihr die Freunde und ihre eigene Wohnung fehlen. »Sie vermisst ihr gewohntes Leben.« Und die Angst sei groß, dass der Krieg noch lange dauert. »Wir sprechen darüber, teilen unsere Sorgen und Ängste.«

Auch Miriel fragt ständig, wann sie wieder nach Hause kann – und meint damit Israel. Mit der Schulleitung stehe sie im Kontakt und erhalte herzliche Nachrichten. »Sie warten auf unsere Tochter.« Auch sie nimmt am Online-Unterricht teil und hält den Kontakt zu ihren neuen Freunden.

SORGEN Elia Kraus ist mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern vor fünf Jahren von Israel nach Frankfurt gezogen und hat nun ihren ersten Job in Deutschland: Die Gemeinde stellte sie als Betreuerin für Israelis an, die vor dem Krieg nach Deutschland geflohen sind und Hilfe brauchen. Es seien mittlerweile mehr als 40 Familien. »Ich helfe ihnen, sich zurechtzufinden, begleite sie aufs Amt. Viele sind erst einmal hilflos.« Man spüre den Stress, den sie gerade haben. Und die großen Sorgen. Die meisten kommen privat unter, andere mieten eine Wohnung. Alle hätten Kinder, die je nach Alter im Familienzentrum der Gemeinde, einer Kita oder in der I. E. Lichtigfeld-Schule betreut werden. Dort wurde bereits eine eigene Klasse für sie aufgemacht – und die heißt »Kitat Schalom«.

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