Steve Karro hat eine ruhige Hand. Er hält eine Feder. Vor ihm steht ein gläsernes Fässchen mit Granatapfeltinte. Vorsichtig setzt er an, um den ersten Buchstaben des Wortes »Adonai«, »der einzige Gott«, zu zeichnen. Karro ist Toraschreiber und extra für diesen besonderen Tag von Miami nach Göttingen gekommen, um die letzten noch fehlenden Wörter in der Torarolle zu ergänzen. Der vergangene Freitag war für die Göttinger Gemeinde ein Freudentag: Mit einer feierlichen Zeremonie nahm sie zwei Torarollen in Empfang, die in einer Spezialwerkstatt in den USA restauriert worden waren. Die 220 und 150 Jahre alten Rollen stammen ursprünglich aus Prag und Frankfurt/Main. Die böhmische Rolle sei der Gemeinde von der früheren Kirchlichen Hochschule in Naumburg als Dauerleihgabe überlassen worden, sagte der zweite Vorsitzende der Gemeinde, Harald Jüttner. Die andere Torarolle habe sich zuletzt auf einem jüdischen Friedhof in Berlin befunden. Sie sei von einem blutigen Tallit umhüllt gewesen.
Feuchtigkeit Die Göttinger Gemeinde hatte die Rollen nicht mehr verwenden können, da sie aufgrund starker Verschmutzung und Beschädigungen nicht mehr koscher waren. »Die Torarollen mussten während der NS-Zeit versteckt werden, vermutlich wurden sie damals in Kellern gelagert«, erläuterte der Kultusbeauftragte der Gemeinde, Till Jehoshua Baeckmann. Dadurch seien sie nicht nur Feuchtigkeit, sondern auch Mäusefraß ausgesetzt gewesen, so dass die Ränder teilweise erheblich ausgefranst gewesen seien. Außerdem seien sie stark ausgebleicht und voller Stockflecken gewesen. Die in Berlin aufgefundene Rolle war besonders stark beschädigt. »Sie war kurz davor, beerdigt zu werden«, sagte die Gemeindevorsitzende, Jacqueline Jürgenliemk.
Reinigung Werkstatt Im vergangenen Jahr bekam die Gemeinde Kontakt zu den Initiatoren eines Hilfsprogramms in den USA, das osteuropäische und deutsche Gemeinden bei der Beschaffung und Restaurierung von Torarollen unterstützt. Dadurch wurde es möglich, die beiden Torarollen in die Spezialwerkstatt des Rabbiners und Toraschreibers Steve Karro nach Miami zu bringen, wo sie einer aufwendigen Reinigung und Restaurierung unterzogen wurden. Gemeinsam mit dem Sponsor der Aktion, Leonard Wien und dessen Ehefrau Barbara, brachte Karro die Rollen nun wieder aus Florida zurück nach Göttingen. Leonard Wien, dessen Familie im Holocaust fast völlig ausgelöscht worden war, hat bereits mehreren jüdischen Gemeinden in Deutschland zu einer Torarolle verholfen. Die Wiederherstellung der Rollen sei ein Beleg für das wiedererstandene Judentum in Göttingen, sagte der Initiator des Hilfsprogramms.
Die Torarollen wurden in einer Prozession unter einem Baldachin in die Synagoge getragen. Außer vielen Gemeindemitgliedern waren auch Rabbiner David Schle- singer aus Jerusalem sowie Vertreter der Stadt Göttingen und anderer Religionsgemeinschaften gekommen, um der feierlichen Zeremonie beizuwohnen. Zu Beginn wurde der – noch leere – Toraschrank geöffnet. Rabbiner Gabor Lengyel aus Hannover, der die Feierstunde gestaltete, dankte den Sponsoren für die großzügige Unterstützung.
Assistenz Dann bat er den Restaurator und Toraschreiber Steve Karro um die Vollendung seines Werkes. Außerdem hatte die Gemeinde zehn Personen ausgewählt, die ihm bei den einzelnen Zeichen assistieren durften. Insgesamt bestehe die Tora aus mehr als 600.000 Buchstaben, erklärte Rabbiner Gabor Lengyel. Die Zeremonie vor Publikum habe eine besondere Bedeutung, sagte der Rabbiner: »Er schreibt in unserem Namen, damit sind wir Bestandteil der Tora.« Beim letzten Buchstaben assistierten die Kinder. Danach durfte jeder von ihnen die Feder anfassen. »Durch die Tora sind wir eine Einheit«, sagte Steve Karro. »Wir hoffen, dass mehrere Generationen von dieser Torarolle lesen werden.« Dann wurde die Stimmung ausgelassen: Die Gemeindemitglieder sangen, klatschten, tanzten und freuten sich, die Torarollen in den Schrein einbringen zu können.
2008 feierte die jüdische Gemeinde, die 1994 wiederbelebt worden war, die Einweihung ihrer Synagoge. Der Fachwerkbau aus dem Jahr 1825 stand ursprünglich in Bodenfelde an der Weser. Die Gemeinde hatte die alte Dorfsynagoge gekauft, nach Göttingen umgesetzt und dann originalgetreu auf dem Gelände ihres Gemeindezentrums wieder aufgebaut.