Ich leite ein Polizeikommissariat in Bremen. Wenn das Wetter es zulässt, fahre ich mit dem Fahrrad zum Dienst. Vor Kurzem habe ich nochmal um drei Jahre verlängert: Ich bin jetzt 62. Zum Aufhören fühle ich mich zu jung. Außerdem soll mein Sohn Jonathan nicht sagen müssen: »Mein Vater ist pensioniert«. An seinem Spielhaus draußen im Garten weht eine Werderfahne. Ein Stückchen Lokalpatriotismus. Mein Sohn ist sieben. Er weiß, dass er Jude ist; meine Frau und ich versuchen, ihm zu erklären, was das bedeutet. Aber in erster Linie ist Jonathan Bremer.
Studium Auf einem Foto vor dem Bücherregal ist Jonathan zusammen mit seiner Schwester Hannah zu sehen. Beide haben verschiedene Mütter. Hannah ist Richterin in Pinneberg. Mit ihren blonden Haaren und ihren blauen Augen sehen Hannah und Jonathan meinem Vater Hermann Katz viel ähnlicher als ich. Mir gefällt das. Vater war ein beeindruckender Mann, ein Arzt aus Siebenbürgen. Er hat mir, als wir schon lange nicht mehr in Rumänien lebten, einen Medizinstudienplatz in Bukarest besorgt, denn hier in Deutschland reichte es bei mir nicht wegen des Numerus clausus. Doch ich habe mich schließlich anders entschieden: Ich ging nach Wilhelmshaven und studierte Wirtschaft.
Nach dem Studium habe ich mich gefragt, was ich machen sollte. Im Kino habe ich einen Spot gesehen mit einem Motorradpolizisten. Da habe ich gedacht: Juden werden Kaufleute, Ärzte – das will ich nicht, ich will einen normalen Beruf.
Inzwischen bin ich Kriminalhauptkommissar, das ist die höchste Ebene des gehobenen Dienstes. In den höheren Dienst wollte ich nie. Dort hat man kaum noch Kontakte mit Menschen. Ich bin nicht zur Polizei gegangen, um ein Verwaltungsmensch zu werden. Drei Jahre lang habe ich Analyse gemacht, Profiling, Lagebilddarstellung. Man sitzt den ganzen Tag am Computer, hat furchtbar viele Konferenzen. Selbstverständlich ist das wichtig, und es ist ja auch eine spannende Aufgabe. Aber irgendwann musste ich raus – und wieder direkt mit Menschen zu tun haben.
Sozialfaktor Ich habe mich in fast 40 Jahren nie prügeln müssen. Vielleicht weil ich mich immer als Schiedsrichter, als Sozialfaktor verstanden habe. Für mich ist Prävention wichtig. Diebstähle, Einbrüche, Raubdelikte, Körperverletzung. Da hat man viel mit Jugendlichen zu tun. Es kommt darauf an, mit ihnen zu reden, sie ernst zu nehmen. Viele von denen sehe ich nicht wieder. Das freut mich. Und das ist für mich ein kleiner Erfolg. Natürlich kann man in den zwei Stunden, die man mit jemandem hat, der vielleicht straffällig geworden ist, niemanden bekehren. Aber wenn man entsprechend reagiert, kommt manchmal auch etwas zurück. Das hat mir immer Zufriedenheit gegeben in meinem Beruf.
Vernehmungen sind ein wichtiger Teil meiner Arbeit. Ich spreche mit Zeugen und Beschuldigten, das ist eine sehr sensible Angelegenheit. Die Leute, mit denen ich spreche, müssen sofort merken, dass ich ehrlich bin, dass ich ihnen nichts erzähle, um sie reinzulegen. Meine Aufgabe ist, mir ein Bild zu machen. Gleichzeitig will ich mein Erziehungsideal nicht in den Hintergrund treten lassen. Ich muss immer wieder betonen, dass ich helfen will. Ich merke, wie manche schwimmen, die kriegen die Kurve nicht.
Ermittlung Auf Streife hat man nur kurze Begegnungen. Man schreibt einen Bericht; Aufklärung und Ermittlung passieren woanders. Das Ende bekommt man gar nicht mit. Ich fand das unbefriedigend. Bei der Kripo kann ich bis zum Ende über eine Akte verfügen. Ich kann gestalten, indem ich mit den Leuten rede und versuche, dahinterzukommen, warum sie etwas gemacht haben. Ich bin da vollkommen frei in meiner Arbeit. Das ist ein hohes Gut.
Bei Jugendlichen ist es heute oft ein Riesenproblem, dass sie von ihren Eltern vernachlässigt werden. Sie gehen dann alleine raus – und begegnen manchmal den falschen Freunden. Ich treffe viele, die zwischen zwei Welten zerrissen werden. Die wollen auffallen, etwas darstellen. Also werden sie straffällig, weil sie sich nur so beweisen können, dass sie leben, dass sie einfach da sind. Manchmal habe ich mehr mit Symptomen gesellschaftlicher Phänomene zu tun als mit Straftaten.
bukarest Ich wurde 1950 in Bukarest geboren. Als ich fünf Jahre alt war, sagte ein kleiner Junge zu mir: »Du sprichst aber gut Rumänisch – obwohl du Jude bist!« Das war ein Schock. Fünf Jahre später gingen meine Eltern mit mir nach Israel. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt; obwohl mein Vater keine Anstellung fand, hatten wir ein kleines Häuschen in der Nähe von Tel Aviv. Es lebten auch eine Menge Verwandte dort. Alle waren sie Zionisten, denn man sagte sich: »Wir sind ja nirgends willkommen.«
Mein Vater war 1941 beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion dabei, als Arzt in der rumänischen Armee. Er ist desertiert und schloss sich der Roten Armee an. Mit der kam er dann nach Bukarest zurück. Nach dem Krieg machte er eine Praxis auf. Aber plötzlich waren die Rumänen die größten Kommunisten. Weil Vaters Name deutsch klang, kamen keine Patienten zu ihm. Also hat er seinen Namen romanisiert: Statt Katz stand nun Cornea auf dem Praxisschild – das ist das lateinische Wort für Hornhaut. Und schon füllte sich das Wartezimmer. Auch diese Geschichte tragen meine Kinder in ihrem Namen weiter.
Hebräisch Als meine Eltern dann nach Deutschland wollten, brach für mich eine Welt zusammen. Ich war 13, hatte gerade Hebräisch gelernt, hatte meine erste Freundin. Ein Jahr lang weigerte ich mich, Deutsch zu sprechen. Mein Vater bekam eine Stelle in Duisburg. Dort waren gerade Sommerferien. Ein Junge, heute ist er mein ältester Freund, kam mit einem Fußball an und fragte, ob ich mit ihm spielen wolle. »Ja, sehr gern«, habe ich gesagt. Das waren meine ersten deutschen Worte.
Ich hatte fast nur deutsche Freunde. Der Preis des Dazugehörens war allerdings, dass ich einen Teil meines Judentums aufgab. Das wurde mir aber erst sehr viel später klar. Auf dem Gymnasium habe ich meine erste Frau kennengelernt. Ich begegnete da einer Jugend, die ausbrechen wollte aus einer verkrusteten Gesellschaft. Man sagte: »Wir wollen Frieden und keinen Krieg!« Meine Freunde waren links, wir haben nächtelang philosophiert. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich dann 1975 zur Polizei gegangen bin.
Ich bin ein hoffnungsloser Optimist. Ich glaube daran, dass positive Verstärkung mehr hilft als Sanktionen. Mag sein, dass das sowohl mit dem Judentum zu tun hat als auch mit den 68ern. Für mich ist wichtig, zu sehen, wie ich mit jemandem klarkomme. Das hilft mir nicht nur in meinem Beruf. So gehe ich mit meiner Familie um, meinen Freunden und auch mit der Gemeinde. Dort habe ich meine jetzige Frau Marina kennengelernt.
gemeinde Wegen meines Berufs bin ich in der Gemeinde natürlich für die Sicherheit zuständig, als Bindeglied zu den Behörden. Vor allem aber bemühe ich mich um eine rigorose Öffnung. Ich habe mich um einen Runden Tisch mit allen Religionen gekümmert. Erst als nach fünf Jahren alle merkten, dass die anderen glaubwürdig und ehrlich sind, konnten wir anfangen, richtig miteinander zu arbeiten – und nicht nur nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Ich habe auch mal einen Palästinenser, der als Zweijähriger aus Haifa vertrieben wurde, in die Gemeinde eingeladen. Der sollte aus seiner Sicht erzählen, was damals war.
Vielleicht ist es gerade meine eigene Geschichte, die mir hilft, so etwas zu machen. Ich bin heute einer von nur etwa fünf jüdischen Polizisten in Deutschland. Ich bin das gern. Und es ist mir gelungen, weil ich mich bemüht habe, kein Exot zu sein. Und weil ich auf Menschen zugehe.
Aufgezeichnet von Tim Schomacker