Jeremy Borowitz hat sich die weißen Arbeitshandschuhe angezogen. In geraden Linien schneidet er mit ruhiger Hand die übergroße grüne Plane in mehrere gleich große Teile. Aus diesen wird später die Rückwand für die mit Schilfrohr und Ästen bedeckte Hütte entstehen. »Es wird alles sehr schön werden«, sagt Borowitz mit einem Lächeln.
Es ist die Woche von Sukkot, dem jüdischen Laubhüttenfest. »Ich fühle mich gut, dass ich heute dabei helfen kann, die Sukka zu bauen«, sagt der gebürtige Amerikaner.
Gemeinsam mit seiner Frau, der Rabbinerin und Yogalehrerin Rebecca Blady, sowie weiteren Mitgliedern der Initiative »Base Berlin« hat Borowitz an diesem Donnerstagnachmittag den Biergarten »Golgatha« im Viktoriapark im Berliner Bezirk Kreuzberg gemietet.
TRAUMA »Base Berlin« versteht sich als Plattform für junge Juden aus aller Welt, die sich vernetzen wollen und zeitgenössische jüdische Werte vermitteln möchten. »Sukkot ist ein Fest der Freude, an dem wir zusammenkommen, gemeinsam essen, lachen und beten«, sagt Rabbinerstudent Borowitz, der im Frühjahr von New York nach Berlin gezogen ist. »Wir wollen zusammen sein und feiern, auch wenn es für uns alle noch etwas schwer ist.«
Borowitz war in der vergangenen Woche zusammen mit seiner Frau zum Jom-Kippur-Gottesdienst in der Synagoge in Halle, als ein Rechtsextremist damit begann, mit schweren Waffen auf die Eingangstür zu feuern. Wie durch ein Wunder hielt die Holztür des Gotteshauses der Attacke stand, der Täter konnte nicht eindringen. Auf seiner Flucht vor der Polizei erschoss er zwei Menschen und verletzte weitere schwer.
Die Sukkotfeier in Kreuzberg widme man den beiden Todesopfern von Halle, sagt Jeremy Borowitz.
»Das Trauma und die Trauer sitzen nach wie vor unglaublich tief«, sagt Borowitz. Die Sukkotfeier in Kreuzberg widme man den beiden Todesopfern von Halle. »Diese beiden Menschen wurden mit Kugeln getötet, die für uns bestimmt waren«, sagt seine Frau Rebecca Blady. »Es ist ein schreckliches Gefühl«, sagt die 29-Jährige. »Ich danke Gott, dass wir überlebt haben, und ich bete für die Ermordeten und ihre Angehörigen.«
SICHERHEITSAUFLAGEN Der Bau der Sukka und die Feier im »Golgatha« hat »Base Berlin« schon seit vielen Wochen geplant. Nach dem Attentat von Halle stand die Frage im Raum, ob man das Ganze nicht lieber absagen solle. »Wir haben uns dann ganz bewusst dagegen entschieden«, sagt Blady. »Wir müssen dem Terror und dem Hass Leben und Freude entgegensetzen.«
Allerdings wurden die Sicherheitsauflagen für die Feierlichkeit erhöht. Statt wie ursprünglich geplant ausschließlich private Wachleute zeigt auch die Berliner Polizei Präsenz. Nur einer der beiden Eingänge zum Biergarten ist geöffnet.
Damit man die Lage besser im Blick habe und kontrollieren könne, wer aus- und eingeht, heißt es dazu von der Polizei. »Wir haben den Biergarten in Kreuzberg als Veranstaltungsort gewählt, um der Gesellschaft zu zeigen, dass jüdisches Leben offen, vielfältig und bunt ist«, sagt Blady. Man wolle sich als jüdische Community nicht hinter abgeschirmten Mauern verbergen.
ERSCHÜTTERUNG Man merkt der jungen Frau im Gespräch an, dass der Terror von Halle sie tief erschüttert hat. Auch ihr Bild von der deutschen Gesellschaft habe sich seither verändert, sagt sie. Ihrem Mann geht es ähnlich. »Wenn ich auf der Straße unterwegs bin, schaue ich mich jetzt immer zweimal um, wer hinter mir geht«, sagt Borowitz. Durch seine Kippa, die er immer auf dem Kopf trägt, sei er schließlich leicht als Jude zu erkennen. In letzter Zeit trägt Borowitz daher lieber eine Schirmmütze über seiner Kippa. Die Furcht vor Übergriffen sei gegenwärtig.
»Ich will meine Religion leben können, ohne dabei um mein Leben fürchten zu müssen«, sagt Borowitz und greift zum Klebeband. An einer Seite der Sukka hat sich die grüne Plane und damit die Rückwand gelöst. Mit ein paar beherzten Griffen ist das Problem gelöst. Bei Einbruch der Dunkelheit steht die Sukka.
Inzwischen ist es voll geworden im »Golgatha«. Rund 80 Menschen sind zusammengekommen. Sie essen Brezeln und Hummus, trinken Bier und Wein und unterhalten sich angeregt. Ein DJ sorgt mit seinen entspannten Vibes für angenehmes Ambiente. Trotz des Terroranschlags von Halle, der in vielen Gesprächen der Gäste unweigerlich zum Thema wird, ist die Stimmung ausgelassen und feierlich.
gottesdienst »Ich finde es fantastisch, dass so eine Sukkotfeier wie heute nach Halle möglich ist«, findet Shmul Slater. Der gebürtige Australier aus Melbourne lebt seit mehreren Jahren in Berlin und engagiert sich ebenfalls bei »Base Berlin«. Regelmäßig besucht er den Gottesdienst in der Synagoge am Fraenkelufer.
»Wir dürfen uns nicht die wunderbare Vielfalt kaputt machen lassen«, sagt Shmuel Slater aus Melbourne.
»Ich bewundere Rebecca und Jeremy für ihre Kraft, nach den wirklich schrecklichen Geschehnissen weiterzumachen«, sagt Slater und schiebt die weiße Kippa auf seinem Kopf zurecht. Lange Zeit habe er sich nicht getraut, öffentlich Kippa zu tragen. Seit vergangener Woche setzt er sie nur noch zum Schlafen und Duschen ab. »Generell fühle ich mich sehr wohl und sicher in Berlin«, sagt Slater.
Anders als in seiner Heimatstadt Melbourne, in der die jüdische Gemeinde mehrheitlich konservativ ausgerichtet sei, gebe es in der Bundeshauptstadt ein breites Angebot an kulturellem und religiösem jüdischen Leben. »Wir dürfen uns diese wunderbare Vielfalt nicht von den Antisemiten und Hassern kaputt machen lassen«, betont der junge Mann.