Was ist so anders an den anderen? Und sind wir es nicht am Ende selbst, nämlich anders? Es kommt immer auf die Perspektive an. Mit dieser provokanten These hat sich ein zweitägiger Workshop in Weimar beschäftigt. Er war Teil des Projektes »Perspektivwechsel«, einer Bildungsinitiative gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Das Projekt wird unter anderem aus Mitteln des Bundes und des Landes Thüringen gefördert.
Allein dem aktuellen Thüringen-Monitor nach zu urteilen, einer statistischen Befragung der Menschen zu Lebensgewohnheiten und Einstellungen, fühlen sich 56 Prozent der Bürger »von Ausländern überfremdet«. Ein Anstieg der Zahl um fast zehn Prozent bei einem Ausländeranteil von weniger als zwei Prozent in Thüringen. »In meiner Heimat sind es 20 Prozent«, sagt Beate Küpper von der Universität Bielefeld.
Zustandsbeschreibung Die Wissenschaftlerin hat an einer Studie mitgearbeitet und darin eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung erarbeitet. »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist in Europa weit verbreitet«, lautet ihr Fazit. Etwa die Hälfte aller europäischen Befragten war der Ansicht, es gebe zu viele Zuwanderer. Ebenfalls etwa die Hälfte wünsche sich ein Arbeitsplatzvorrecht für Einheimische in Krisenzeiten. Die Fremdenfeindlichkeit sei unterschiedlich hoch, in Polen und Ungarn würden sehr offen Minderheiten und Ausländer abgelehnt. Auch der Antisemitismus sei dort besonders hoch.
Wo liegen nun die Verhaltensmuster und Denkstrukturen, die zu Vorurteilen führen? Und wann beginnt Ausgrenzung? »Das Dilemma der Differenz« – nennt es Marina Chernivsky von der ZWST. Auch sie kennt Diffamierungen aus ihrer Kindheit in Lemberg und heute. »Es sind Schieflagen, die man nicht hinnehmen kann«, sagt die junge Frau, die 2007 das Modellprojekt »Perspektivwechsel« initiierte und seither Mitstreiter in Bildung und Politik dafür begeistern konnte.
Ihr Anliegen ist, Vorurteile abzubauen, eigene Sichtweisen zu hinterfragen und den Seminarteilnehmern Wissen zu vermitteln, wie die Anti-Bias-Pädagogik. Das englische Wort Bias steht hier für Voreingenommenheit, Schieflage, Vorurteil. »Wir arbeiten mit einer Methode, die hilft, einseitige Sichtweisen zu verlassen. In der Soziologie und Pädagogik ist dies mittlerweile ein gängiger Begriff.«
Umdenken Es sei kein fertiges Konzept, sondern ein Ansatz, der eine Haltung zur Folge hat, sagt Marina Chernivsky. »Wenn es uns gelingt, Lehrer, Beamte, Mitarbeiter in den Verwaltungen, Polizisten und Politiker dafür zu sensibilisieren, wären wir ein großes Stück weiter.«
»Gefragt ist nicht der schnelle Feuerwehr-Einsatz«, sagte einer der Workshop-Teilnehmer am Ende der beiden Tage in Weimar. »Vielmehr geht es um einen lebenslangen Prozess.« Auch Mario Förster hat an der Anti-Bias-Methode seinen Ansatz gefunden. Der Doktorand aus Göttingen hat vor einem Jahr erstmals die Tagung von »Perspektivwechsel« besucht und seither das Thema für sich entdeckt.
Mittlerweile hat er die Ausbildung zum Anti-Bias-Trainer abgeschlossen und wendet das Wissen in seinem Alltag an, »weil es doch in der Uni selbst leider nur eine kleine Rolle spielt. Es ist ein Thema, das gerade aus der Nische herauskommt und nun an Präsenz gewinnt, ein wichtiges Thema.« Der neue pädagogische Ansatz bedeutet, die Perspektiven zu wechseln, Minderheiten als Teil einer Vielfalt zu begreifen und zu verstehen, dass Minderheiten erst von anderen zu solchen gemacht werden.
Das geschieht durch Ausgrenzung. »Schule neu denken« wäre ein Wunsch-Projekt von Mario Förster. Denn: Wann wird ein Kind diskriminiert? Wenn ihm eine Gruppe bewusste Teilhabe verweigert, wenn innere Immigration erfolgt und Lehrer nicht reagieren. »Wir müssen uns dafür engagieren, dass die Kinder untereinander gute Beziehungen haben«, dafür plädiert Annedore Prengel von der Universität Potsdam. »Kummer dürfen wir nicht ignorieren.« Wenn Autoritätspersonen andere Kinder bloßstellen und abwerten, anstatt sie zu motivieren, kann ein Kind nicht lernen. »Diskriminierungen schlechter Schüler sind in der Schule leider üblich.«
Verhaltensmuster »Ausgrenzen muss nicht sein«, sagt Marina Chernivsky. »Das bestimmen immer andere. Und daran gilt es zu arbeiten.« Die Beispiele sind vielfältig: Kinder übernehmen Verhaltensmuster ihrer Eltern, Pädagogen reagieren nicht auf Mobbing, und Mitarbeiter von Behörden verhalten sich nicht immer korrekt, bemängeln Ausländerbeauftragte.
Es bedarf der »Kraft des inneren Protestes«, des Nein-Sagens, wenn Menschen zu »anderen« gemacht werden. Es bedarf »einer Haltung«, formulierte die Schweizer Ethnologin und Sprachwissenschaftlerin Rebekka Ehret. Sie hat das »Baseler Integrationsmodell« entwickelt und beschäftigt sich seit 20 Jahren in Sierra Leone mit den Menschen in Afrika. Dort hat sie Übersetzungen von Augenzeugenberichten begleitet, Aussagen von Menschen, deren Diffamierungen in brutalster Gewalt endeten.
»Manchmal hilft das Besinnen auf Sprache, um Dinge nicht hinzunehmen als bloße Fakten und Tatsachen«, sagt sie und verweist darauf, dass »factum« aus dem Lateinischen »facere« abgeleitet wird, was im Deutschen so viel wie »machen, tun, handeln« bedeutet.