Porträt der Woche

Frau der Bilder

»Ich musste erst mehr als 30 Jahre alt werden, ehe ich erfahren sollte, dass meine Mutter in Auschwitz war«: Anna Adam (61) Foto: Chris Hartung

Ich denke in Bildern. Sobald ich jemandem begegne oder einen Raum betrete, läuft in meinem Gehirn eine Art Diashow ab. Später im Atelier, während ich meditiere, halte ich einzelne Bilder eine Weile an und male sie dann. Wenn ich Bühnenbilder baue oder Museumsräume gestalte, kann ich wenig mit technischen Zeichnungen anfangen. Ich konzentriere mich auf das Bildhafte dieser Objekte. So kann ich sie in verschiedenen Varianten bauen und gelegentlich auch Fehler revidieren. Und das funktioniert dann auch statisch. So habe ich viele Jahre bei den Bühnenbildern für das jiddische Hackesche HofTheater in Berlin experimentiert. Dort war eine freie, spielerische Gestaltung möglich, wie ich es an den etablierten Staatstheatern, wie der Oper in Hannover, nie vorgefunden habe.

Eine andere Arbeit, die mir sehr viel Spaß gemacht hat, war die für das Ethnologische Museum in Dahlem, wo ich das »Juniormuseum« gebaut habe. Dort entstand ein australisches Outback als eine Wüstenlandschaft auf zwei Ebenen, mit Details wie etwa einem Termitenhaufen. Der Boden wurde beheizt, sodass wir die richtige Sandtemperatur hatten. Die Kinder liefen barfuß und mit einem Forscherkoffer durch dieses Outback, um es eigenständig zu erkunden.

Über das Anderssein sprechen

Das Besondere in meiner Familie war spürbar, etwa wenn wir im Gegensatz zu meinen Mitschülern kein Weihnachten feierten. Bei uns wurden nicht nur keine christlichen, sondern überhaupt keine Feste gefeiert. Aber es wurde über dieses Anderssein nicht gesprochen. Wir wohnten in Siegen, mein Vater war ein linker Stahlarbeiter, hatte mit Religion nichts am Hut, und meine Mutter sprach Deutsch mit einem putzigen Akzent.

Wir wohnten in einer Arbeitersiedlung, und weil meine Eltern im Schichtdienst gearbeitet haben, waren ich und meine Geschwister Schlüsselkinder. Meine Familie hatte nie viel Geld, aber ich war stolz, ein Arbeiterkind zu sein. Erst als ich längst erwachsen war und schon mit meiner Frau, der Schauspielerin und Chasanit Jalda Rebling, zusammenlebte und wir mit ihrem kleinen Sohn die jüdischen Feste feierten, fing meine Mutter plötzlich an, mir von ihrer Kindheit in Polen zu erzählen. Zum Beispiel erinnerte sie sich, dass zu Pessach eine Kutsche durch den Ort fuhr, und den Kindern frisch gebackene Mazzot zugeworfen wurden.

Die ersten 30 Jahre meines Lebens war ich Arbeiterkind und Punk. Nach dem Abitur habe ich in Düsseldorf und Hannover Kunst und Erwachsenenbildung studiert. Letzteres vor allem deshalb, weil es an diesem Institut eine Holzwerkstatt gab. Aber ich musste erst mehr als 30 Jahre alt werden, ehe ich erfahren sollte, dass meine Mutter in Auschwitz war. In meiner Kindheit hatte es für mich keine jüdische Identität gegeben. Das änderte sich nun.

Der VW-Bus wurde durch Aufschriften als Happy Hippie Jew Bus kenntlich gemacht.

Im Jahr 2009 wurde ich vom Zentralrat der Juden eingeladen, in Dortmund ein Impulsreferat zu halten zu der Frage: »Was ist jüdische Kunst?«. Da ich das nicht weiß, habe ich mich in Rage geredet und mir während des Referats überlegt, wie man aus einem VW, also einer deutschen Nazi-Karre, ein »jüdisches Auto« machen könnte. Das habe ich dann während des Vortrags spontan visualisiert. Dieser Vortrag fand in Vorbereitung der Jüdischen Kulturtage in Nordrhein-Westfalen statt.

Kurze Zeit später kam die Anfrage, ob ich da eine Retrospektive meiner Bilder zeigen möchte. Weil ich das langweilig fand, habe ich vorgeschlagen, stattdessen die Idee mit dem jüdischen Auto auszuprobieren. Der Gedanke wurde aufgegriffen, und ich bekam einen VW-Bus. Er wurde durch entsprechende Aufschriften als »Happy Hippie Jew Bus« kenntlich gemacht, mit einer Auto-Mesusa ausgestattet und einem kleinen Aron Hakodesch mit einer winzigen Torarolle. Damit bin ich zusammen mit Jalda drei Wochen durch NRW getingelt.

Unser Bus wurde zu einer sozialen Plastik, mit der wir an öffentlichen Plätzen mit den Leuten vor Ort verschiedene Performances veranstalteten oder ein Quiz zum Thema Kaschrut machten oder einfach nur diskutierten. Diese öffentlichen Aktionen standen bei mir in einer Tradition von Kunstaktionen, die ich Jahre zuvor gemacht hatte. Ich nannte sie damals »Feinkost Adam«, mit dem satirischen Untertitel »Heilung der deutsch-jüdischen Krankheit«.

Mitglied der europäisch-jüdischen Künstlergruppe Meshulash

Um das erklären zu können, muss ich einen Schritt zurückgehen. Ich war Mitglied der europäisch-jüdischen Künstlergruppe Meshulash. Wir haben in der ersten Hälfte der 90er-Jahre in Berlin einige Ausstellungen gemacht. Dabei war mir aufgefallen, dass viele Besucher immer per se betroffen sind, unabhängig vom jeweiligen jüdischen Thema. Das hat mich wahnsinnig genervt. Also habe ich angefangen, Satire zu machen. Ich habe zum Beispiel einen »Konvertiten-Tunnel« gebaut. Da konnte man hineingehen, sich umziehen und sich so in einen »Klischee-Juden« verwandeln. Am Ende des Tunnels stand ich als Reporterin und fragte: »Sie sind jetzt für 24 Stunden jüdisch. Wie geht’s Ihnen damit?«

Oder ich habe in einer Ausstellung im Centrum Judaicum eine Vogel-Sukka aufgehängt und daneben den Text gestellt: »Wenn Juden einen Vogel haben und dieser religiös erzogen wurde, dann braucht er auch eine Sukka – bei geschlossenem Dach auch als Sedertafel verwendbar.« Ich habe mich daneben gesetzt und beobachtet, wie die Leute reagierten. Weil ich Jüdin bin, haben sie mir alles geglaubt. Das hat Bernhard Purin, den damaligen Direktor des Jüdischen Museums in Fürth, dazu veranlasst, diese Vogel-Sukka in seinem Museum aufzuhängen.

Als sich entgegen seinen Erwartungen meine Beobachtungen auch dort bestätigten, lud er mich ein, weitere satirisch-jüdische Aktionen an seinem Haus durchzuführen. Für jede Etage habe ich ein anderes Objekt entwickelt. Das führte zu einer unglaublich polarisierten Medienreaktion, die man unter dem Stichwort »Feinkost-Adam« im Internet noch heute dokumentiert findet. Jedenfalls kamen die Leute in Franken mit meiner Satire nicht klar, und es entwickelte sich ein riesiger Skandal. Auch seitens der jüdischen Community. Das Ganze wird derzeit aufgearbeitet, und ab Juni wird es am selben Ort eine Ausstellung zu den damaligen Vorgängen unter dem Titel »Shitstorm« geben.

Unseren Umzug aufs Land haben Jalda und ich der Gentrifizierung in Berlin zu verdanken. In Berlin standen mir immer große Fabriketagen als Ateliers zur Verfügung, wo ich die Bühnenbilder, Museumsobjekte und auch Rauminstallationen alle selbst gebaut habe. Eines Tages habe ich vor Ablauf des befristeten Mietvertrags erfahren, dass sich die Miete verdoppeln würde. In dieser Situation schlug uns eine Freundin und Sammlerin meiner Kunst vor, aufs Land zu ziehen.

Ich war mein Leben lang immer ein Stadtkind.

Nun war ich mein Leben lang immer ein Stadtkind und konnte es mir erst einmal überhaupt nicht vorstellen. Außerdem fanden wir nur Objekte, die entweder viel zu weit von Berlin entfernt oder viel zu klein, viel zu teuer oder viel zu kaputt waren. Wir hatten eigentlich die Idee schon aufgegeben, da habe ich im Internet dieses ehemalige Schulgebäude entdeckt, in dem wir nun leben und arbeiten.

Ausschreibung der Dorfgemeinschaft

Es gab eine Ausschreibung der Dorfgemeinschaft, der es nicht darum ging, wer das dickste Portemonnaie hat. Ich habe dann unser Konzept vorgestellt. Wir haben auch geschrieben, dass wir zwei jüdische Künstlerinnen sind, die zusammenleben. Sollte das ein Problem sein, wollten wir, dass man uns schon frühzeitig den Hoffnungszahn zieht.

Aber nein, wir kamen von Runde zu Runde weiter, und nach einigen Monaten haben wir dann erfahren, dass wir das Haus kaufen können. Die Entscheidung hat, wie wir später erfuhren, deshalb so lange gedauert, weil die Dorfvorsteherin mit jedem Bewohner einzeln gesprochen hat. Und schließlich hatte sich die Dorfgemeinschaft mehrheitlich für uns entschieden.

Von Anfang an haben wir hier im Dorf gespürt, dass man uns gewogen ist und man sich auf uns gefreut hat. Als ich das Haus umgebaut und nebenan mein Atelier eingerichtet habe, bekam ich vielfältige Unterstützung. Und als Jalda mit einem Musikensemble für ein Konzert mit mittelalterlicher jüdischer Musik geprobt hat, schlug ich vor, die Generalprobe öffentlich in der Dorfkirche abzuhalten. An diesem Abend war die Kirche bis zum letzten Platz besetzt, und das Publikum zeigte sich echt fasziniert.

Zu Sukkot bauen Jalda und ich immer eine für jeden offene Sukka, und viele aus dem Dorf kommen auch an diesen Tagen. Mit anderen Worten: Wir sind in Wittbrietzen angekommen.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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