Die Kasseler Universität soll ein Zentrum der Forschung über den in der Stadt geborenen Religionsphilosophen Franz Rosenzweig werden. Der Wiener Historiker Frank Stern, der im vergangenen Jahr die Kasseler Rosenzweig-Gastprofessur innehatte, will der Forschung neue Impulse verleihen.
Unter anderem, indem er »einen Schatz« in der zur Universität gehörenden Murhardschen Bibliothek heben will: Seit 2006 lagert dort ein Teilnachlass Rosenzweigs, den dessen Schwiegertochter damals verkauft hatte. Die Stadt, das Land Hessen sowie Stiftungen, Vereine und private Spender hatten Geld gegeben, um Rosenzweigs Nachlass in seine Heimatstadt zu holen. Es handelt sich »um eine unendliche Fülle von Notizen, Entwürfen und Briefen, die auf ein umfangreiches Netzwerk schließen lassen«, so Stern nach einer ersten Sichtung.
Rückkehr Für ihn schließt sich in Kassel ein Kreis: Während seiner Zeit am Gymnasium hatte er sich mit Rosenzweig befasst. Bei den Vorbereitungen für seine Gastprofessur fiel ihm in seiner Bibliothek ein Band mit Rosenzweig-Texten in die Hände. Die Einladung nach Kassel war für ihn »eine Rückkehr zu Rosenzweig«.
Der war 1886 in Kassel geboren worden, studierte Medizin, Geschichte und Philosophie. Im Ersten Weltkrieg meldete er sich freiwillig als Soldat. In dieser Zeit entstanden – über Notizen und Briefe – die ersten Entwürfe für sein wohl bedeutendstes Werk Der Stern der Erlösung, in dem er unter anderem sein Konzept für den Dialog zwischen Juden und Christen formuliert; beide nennt er »Arbeiter am gleichen Werk«.
Rosenzweig saß religiös selbst zwischen den Stühlen. Zwei Vettern versuchten ihn vom Übertritt zum Christentum zu überzeugen, nach langem Abwägen entschied er: »Ich bleibe also Jude.« Gemeinsam mit Martin Buber übersetzte er die hebräische Bibel ins Deutsche; beide sind Namensgeber der Buber-Rosenzweig-Medaille, die der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit heute verleiht.
Lehrhaus Nach seinem Umzug nach Frankfurt leitete Rosenzweig das Freie Jüdische Lehrhaus, das Bildung für Erwachsene anbot. In dieser Tradition steht das Franz-Rosenzweig-Lehrhaus der Kasseler Gemeinde, in dem Vorstandsmitglied Esther Haß und Rabbiner Shlomo Freyshist Wissen über jüdische Religion vermitteln – »nicht nur für Gemeindemitglieder, sondern für die Öffentlichkeit«, wie Haß betont.
Die Veranstaltungen sollen »einen anderen Blick« auf Religion ermöglichen, ohne missionarisch zu wirken. Das Lehrhaus will Schwellenangst überwinden, fordert aber auch eine aktive Beteiligung seiner erwachsenen Schüler, die sich durch Fragen einbringen sollen.
Dieses Konzept dürfte im Sinne Rosenzweigs sein, dem das dialogische Prinzip – wie sein Kasseler Nachlass durch die darin enthaltene umfangreiche Korrespondenz eindrücklich vermittelt – stets ein Anliegen war. Er starb bereits mit 43 Jahren an einer schweren Krankheit. Der größte Teil seines Nachlasses befindet sich im Leo Baeck Institute New York.
Kongress Zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 1986 veranstaltete die Kasseler Universität zum ersten Mal einen Rosenzweig-Kongress, der inzwischen an wechselnden Orten weltweit stattfindet. Seit 1987 gibt es die Rosenzweig-Gastprofessur, auf die zunächst Wissenschaftler berufen wurden, die vor den Nationalsozialisten hatten fliehen müssen. Weil es immer weniger Überlebende aus dieser Zeit gibt, werden inzwischen auch jüngere Forscher eingeladen, die sich jüdischen Themen widmen. 2004 gründete sich eine internationale Rosenzweig-Gesellschaft.
Als Rosenzweigs Teilnachlass nach Kassel gelangt war, hatte die Universität angekündigt, ein Archiv und eine Forschungsstelle zu seinem Wirken einzurichten. »Dazu war es seinerzeit nicht gekommen«, sagt Hochschulsprecher Sebastian Mense, »die Arbeiten von Professor Stern greifen den Gedanken auf, den Nachlass der Öffentlichkeit zugänglich zu machen«. Es gebe Überlegungen, das gesamte Erbe oder Teile davon zu digitalisieren und online verfügbar zu machen.
Stern will seine Arbeit daran nutzen, um von Kassel aus die Rosenzweig-Forschung zu befördern. Er stellt sich eine internationale Forschergruppe vor. Erste Kontakte habe er mit Kollegen in aller Welt geknüpft, er wünscht sich eine interdisziplinäre Herangehensweise.
Denn das Kasseler Vermächtnis eröffne einen neuen Blick auf den bisher lediglich als Religionsphilosophen bekannten Intellektuellen. In Sterns Augen ist er »ein Kulturwissenschaftler«. Der Kasseler Nachlass zeige, dass er sich auch mit Sprache und Literatur, mit Architektur, Kunstgeschichte und Musik beschäftigt hat.