Ich bin sehr traditionell aufgewachsen. Wir sind nicht religiös oder orthodox. Aber Traditionen sind uns wichtig. Väterlicherseits haben wir die halbe Familie in Rumänien in der Schoa verloren. Mütterlicherseits waren viele Familienmitglieder evakuiert und haben sich in Czernowitz in der Ukraine wiedergetroffen. Dort sind meine Eltern geboren.
Czernowitz war immer eine sehr jüdische Stadt. Selbst unter der Sowjetherrschaft, als die Religionsausübung verboten war, waren die Czernowitzer Juden aktiv. In Czernowitz wurde ich 1991 geboren. Im Alter von sechs Jahren kam ich mit meiner Familie nach Deutschland. Zuerst landeten wir in Fulda. Dort wurden wir Mitglieder in der Gemeinde, meine Mutter engagierte sich ehrenamtlich.
schule In Fulda besuchte ich einen staatlichen Kindergarten und absolvierte die ersten beiden Schulklassen. Alles war sehr christlich. In der Grundschule mussten wir alle beim Vaterunser aufstehen. Ich kannte das aber nicht, denn in Czernowitz hatte ich einen jüdischen Kindergarten besucht. Und so wurden meine Eltern am ersten Schultag in die Schule zitiert und gefragt, warum ihr Sohn nicht zum Vaterunser aufsteht.
In Czernowitz besuchte ich einen jüdischen Kindergarten.
Dann zogen wir nach Frankfurt. Ich besuchte dort die Lichtigfeld-Schule und ging ins Jugendzentrum der Gemeinde. 2002 fing ich im Alter von elf Jahren an, bei Makkabi Fußball zu spielen. Nach der jüdischen Grundschule bin ich dann auf ein staatliches Gymnasium gegangen. Dort habe ich mein Abitur abgelegt. Auch in dieser Zeit bin ich ins Jugendzentrum gegangen. Parallel war ich auf der jüdischen Religionsschule. Nach dem Abitur habe ich an der Goethe-Universität Soziologie studiert.
Ich arbeite als Kulturreferent der Jüdischen Gemeinde Darmstadt. Dort bin ich auch für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Eines meiner Projekte sind die Jüdischen Kulturwochen. Ich organisiere sie seit 2018 zusammen mit der Stadt Darmstadt. Wir bieten viele verschiedene Veranstaltungen an – etwa Konzerte, Ausstellungen, Buchlesungen und Filmvorführungen. Wir öffnen die Synagoge und zeigen den Menschen die jüdische Vielfalt, die sich in Deutschland bietet. 2020 mussten die Kulturwochen wegen der Pandemie ausfallen.
SCHIEDSRICHTER Mit meiner Frau und unserem Kind leben wir in Offenbach. Wir sind als Familie nicht religiös, aber Traditionen sind uns wichtig, und wir geben sie an unseren Sohn weiter. Die Gemeinden in Offenbach und Darmstadt erlebe ich als familiär. Ich schätze die Atmosphäre sehr. Es ist toll, beim Gebet dabei zu sein, sofern gerade nicht die Corona-Pandemie ist. Man ist füreinander da.
Ich glaube an den zionistischen Grundgedanken, dass wir Israel brauchen, auch wenn ich in Deutschland lebe. Ich war auch stolz, für Makkabi Fußball zu spielen und den Davidstern auf der Brust zu tragen. Ich bin sehr an Israel interessiert, weniger an der Politik, eher am dortigen Sportgeschehen.
Fußball ist seit meiner Kindheit ein wichtiger Teil meines Lebens. Mein Großvater war in der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion als Schiedsrichter tätig. Beim ukrainischen Fußballverband war er als eine Art Sicherheitschef zuständig für die Spiele der ersten Liga. So habe ich damals in der Ukraine sehr viel vom Fußball mitbekommen. In Deutschland begann ich, für Makkabi Fußball zu spielen, war aber nicht so erfolgreich.
Fußball ist seit meiner Kindheit ein wichtiger Teil meines Lebens. Mein Großvater war in der Ukraine und der ehemaligen Sowjetunion als Schiedsrichter tätig.
Im Alter von 14 entschloss ich mich, Schiedsrichter zu werden. Ich habe 15 Jahre lang Fußballspiele gepfiffen. Jetzt bin ich noch beim FSV Frankfurt, dem zweitgrößten Verein Frankfurts, ehrenamtlich als Schiedsrichterbetreuer tätig.
Beim Deutschen Fußballbund betreue ich Nationalmannschaften, die nach Deutschland kommen, so zuletzt die Ukraine. Viele Mitarbeiter des ukrainischen Fußballverbandes kannten meinen mittlerweile verstorbenen Großvater. Es war eine tolle Erfahrung, mein größtes Vorbild, den ehemaligen Fußballer und heutigen ukrainischen Nationaltrainer Andrij Schewtschenko, zu sehen. Ich habe ihm ein Trikot des FSV Frankfurt überreicht. Mein halber Schrank zu Hause ist voll mit Schewtschenko-Trikots.
»GORELIKOV CUP« Vergangenes Jahr gab es in Czernowitz ein besonderes Jubiläum. Der Fußballverein Makkabi Czernowitz wurde 1920 Regionalmeister. Matthias Richter, Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und des Projekts »Erinnerung lernen«, hat zusammen mit dem Jüdischen Museum Czernowitz und weiteren Partnern eine Ausstellung und einen Film zum »Wunder von Czernowitz« vor 100 Jahren auf die Beine gestellt. Coronabedingt konnte das Jubiläum leider nicht angemessen gefeiert werden. Hoffentlich ist das dieses Jahr möglich.
Im Rahmen der Ausstellung wird es in Czernowitz ein von Matthias Richter initiiertes Jugend-Fußballturnier geben. Es heißt »Gorelikov Cup« und ist meinem Großvater Boris Gorelikov gewidmet. Er hat die erste Fußball-Jugendliga in Czernowitz gegründet. Mein Opa wollte Kinder und Jugendliche von der Straße auf den Fußballplatz holen. Der »Gorelikov Cup« soll Ende Mai stattfinden. Kinder bis elf werden daran teilnehmen.
Mittlerweile haben sich Mannschaften aus vielen verschiedenen Regionen der Ukraine angemeldet. Den »Gorelikov Cup« organisiere ich zusammen mit meinem in Odessa lebenden Kollegen und Freund Yury Sebov. Er setzt sich ehrenamtlich stark für das Turnier ein. Die Deutsche Botschaft in Kiew unterstützt uns. Makkabi Deutschland und der FSV Frankfurt werden es ebenfalls tun.
PROJEKT Nach dem Studienabschluss habe ich zusammen mit David Vataman und Sergij Kolesnikow – zwei Freunden, die ich auf Machane kennengelernt habe – überlegt, ein gemeinsames Projekt auf die Beine zu stellen. Aus dieser Idee entstand der Dokumentarfilm 3. Generation – Auf den Spuren unserer Vorfahren. Wir drehten ihn 2017 in der Ukraine, in Russland und Frankfurt. Er handelt vom jüdischen Leben dreier Protagonisten: Es ist zum einen meine Großmutter, bei David und Sergij sind es jeweils Freunde der Familie.
Es war uns wichtig, die Familiengeschichten nach der Schoa zu erzählen – in den Städten, wo wir geboren sind.
Es war uns wichtig, die Familiengeschichten nach der Schoa zu erzählen – in den Städten, wo wir geboren sind. Ich komme aus Czernowitz, Sergij ist in Lemberg geboren, und David stammt aus Sankt Petersburg. Wir haben die Protagonisten erzählen lassen, wie dort das jüdische Leben nach der Schoa war.
Es ging aber auch um die Gegenwart: Sie erzählten, wie es sich anfühlt, in der Frankfurter Gemeinde zu sein. Und sie verglichen das Leben hier mit dem in Russland und der Ukraine. Meine Großmutter erzählte unter anderem, dass sie vom jüdischen Leben in Czernowitz erst in Deutschland erfahren hat.
premiere Den Film haben wir zusammen mit meinem Cousin, dem Filmemacher Nathaniel Knop, gemacht. Premiere feierte er im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt. Seitdem waren wir mit dem Film in 15 Städten. Wir zeigen ihn auch im Rahmen des Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«. Es ist unser kleines Meisterwerk, das wir zusammen geschaffen haben.
Der Film begleitet uns immer noch. Wir denken daran, was unsere Verwandten durchgemacht haben. Wir werden das niemals vergessen. Es hat uns noch mehr mit der jüdischen Identität verbunden.
Wir haben den Film auch bei ZWST-Projekten für junge Erwachsene gezeigt, um ihnen zu sagen: Wenn eure Großeltern noch leben, dann geht nach Hause und fragt sie, was sie durchmachen mussten, weil sie Juden sind. Es ist uns wichtig, dass die Gleichaltrigen die Augen aufmachen und verstehen, dass sie die Zeit nutzen müssen, solange die Großeltern noch leben.
KIPPA Der Antisemitismus ist immer noch präsent. Ich würde nicht mit einer Kippa über die Zeil, die große Frankfurter Einkaufsmeile, laufen wollen. Es würde definitiv nicht gut für mich enden. Die Präsenz des Judenhasses sieht man auch daran, was dem Offenbacher Rabbiner Mendel Gurewitz vor einigen Wochen passiert ist, als er – nicht nur verbal – angegriffen wurde.
Als wir 2017 für den Filmdreh in der Ukraine und in Russland waren, habe ich das Experiment gemacht und bin mit der Kippa in Lemberg, Czernowitz und Sankt Petersburg herumgelaufen. Es hat niemanden interessiert.
Während des Drehs bin mit der Kippa in Lemberg, Czernowitz und Sankt Petersburg herumgelaufen. Es hat niemanden interessiert.
Die russischen Medien haben, als 2014 der Krieg im Donbass begann, die Ukraine als antisemitisches Land dargestellt, wo kein einziger Jude geduldet werde und alle Alija machten. Dem sind wir entgegengetreten. Wir haben gemerkt: In der Ukraine ist man als Jude viel mehr akzeptiert. Das hat uns verwundert. In Czernowitz und Lemberg waren die Synagogen überhaupt nicht bewacht.
Ich fühle mich in der Ukraine als Jude freier als in Deutschland. Aber ich fühle mich nicht sicher hier. Dennoch bin ich meinen Eltern dankbar, dass sie das Beste für uns wollten. Als jüdische Menschen haben wir es hier letztlich besser als in der Ukraine.
Aufgezeichnet von Eugen El