Bevor ich vor vier Jahren nach Berlin gekommen bin, hätte ich mir niemals vorstellen können, dauerhaft irgendwo anders als in Israel zu leben. Wenn ich heute so darüber nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht, warum ich lange Zeit so gedacht habe. Ich bin 37 Jahre alt und stamme aus Nahariya, einem schönen Mittelmeerstädtchen ganz im Norden von Israel.
Nach Berlin zu ziehen, war eine sehr spontane Entscheidung. Ich würde sogar sagen, es war eine Aktion aus dem Bauch heraus. Ich war vorher schon in Deutschland und Berlin als Touristin gewesen und kannte die Stadt daher schon ein wenig. Berlin hatte mich von Beginn an fasziniert. In Israel habe ich Fotografie studiert und einige Jahre auch als freischaffende Fotokünstlerin und Filmemacherin gearbeitet.
kreativität Die Arbeit war auf zwei Ebenen sehr schwierig für mich. Einerseits finanziell, da die Lebenshaltungskosten in Israel sehr hoch sind, andererseits emotional. In Israel habe ich mich immer irgendwie eingeengt gefühlt und konnte meine Kreativität nie so ausleben, wie ich es gern wollte. Der permanent präsente Kriegs- und Verteidigungszustand, der natürlich durch die anhaltende Bedrohungssituation von außen bedingt ist, hat mich belastet.
Ich fühlte mich frustriert und habe trotzdem versucht, mein Leben so gut zu meistern, wie es nur irgend ging. Meinen persönlichen Raum als kreative Frau habe ich dann aber in Berlin gefunden. Das Gefühl der Angst, das mich in Israel immer in der einen oder anderen Weise begleitet hatte, empfinde ich hier nicht. In Berlin verschwand diese Angst einfach mit der Zeit.
Meine Familie hat mich in meinen Entscheidungen immer sehr unterstützt. Dafür bin ich ihr dankbar. Sowohl meine Großeltern väterlicherseits als auch meine Großmutter mütterlicherseits stammten aus Polen, der Vater meiner Mutter war gebürtiger Ukrainer. Die Eltern meines Vaters kamen gebürtig aus Lodz, die Mutter meiner Mutter wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Lodz geboren.
familie Während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung war die Familie meines Vaters und meine Großmutter mütterlicherseits im Ghetto von Lodz interniert. Sie hatten also dieselben Erfahrungen gemacht. Mein Opa mütterlicherseits war Partisan im polnischen Widerstand. Viel mehr wissen wir nicht von ihm.
Meine Großeltern väterlicherseits und meine Großmutter mütterlicherseits wurden nach der Auflösung des Lodzer Ghettos 1944 nach Auschwitz deportiert. Sie haben das Vernichtungslager überlebt und konnten nach dem Ende des Kriegs nach Israel auswandern. Die Mutter meines Vaters, Silvia, deren Geschichte ich zu einem Filmthema gemacht habe, war allerdings die Einzige aus ihrer Familie, die überlebt hatte.
Für meine drei Schwestern und mich war es als Kinder sehr schwierig: Die Schoa war bei uns zu Hause sehr präsent, nicht nur durch die Erzählungen. Die Traumata sind den Menschen in ihrem ganzen Verhalten anzumerken. Mit der Zeit habe ich mich dann selbst für die Geschichte interessiert.
Meine Oma Silvia fing erst an, über ihre schrecklichen Erfahrungen zu sprechen, als ich ihr Fragen stellte und sie dabei filmte. An eine ihrer Erzählungen erinnere ich mich besonders gut. Meine Oma war ein Teenager, als sie mit ihrer Familie im Ghetto eingesperrt war. Ihre Stiefmutter Lena war sehr krank. An einem Tag, als es ihrer Stiefmutter sehr schlecht ging, entschied sich meine Großmutter, bei ihr am Bett zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen. Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits im Ghetto verstorben.
Nicht zur Arbeit zu erscheinen, bedeutete, kein Brot und Wasser zu bekommen. Wenn das Fernbleiben den deutschen Besatzungsbehörden gemeldet worden wäre, hätte es sogar zur Festnahme und zur Deportation führen können. Trotzdem entschied sich Silvia in diesem Moment dafür, bei ihrer kranken Stiefmutter zu bleiben und auf sie aufzupassen. Sie ging mehrere Tage lang nicht zur Arbeit. Lena starb in ihren Armen.
Spurensuche Unter den Bedingungen des grausamen Ghettoalltags bei einem kranken Menschen zu bleiben, das war für mich eine charakterlich sehr starke Tat. Die Erzählungen meiner Großmutter ließen mich nicht mehr los. Ich wollte ihre Geschichte und die ihrer Familie weitererzählen und für andere Menschen erlebbar machen.
Als meine Oma starb, entschied ich mich, in ihre alte Heimat nach Polen zu reisen und in Lodz auf Spurensuche zu gehen. Ich wollte herausfinden, wo das Haus meiner Oma stand, wo ihre Stiefmutter gestorben war. Ich wollte sehen, wo die alten Ghettogrenzen verliefen und was heute noch daran erinnert. So entstand die Idee für meinen Dokumentarfilm My Two Polish Loves, der im Juli in Berlin Premiere feierte.
Die Spurensuche in Lodz gestaltete sich schwieriger, als ich das vorher gedacht hatte. Ich hatte nur eine alte deutsche Liste mit Straßennamen des Ghettos im Gepäck, die mir aber vor Ort mit den neuen polnischen Namen nicht weiterhalf. Das Haus meiner Oma zu finden, war für mich das Wichtigste. Leider erfolglos – es gibt das Haus nicht mehr. An seiner Stelle befindet sich heute ein öffentlicher Park.
momente Für mich war es sehr wichtig, dass mich meine Partnerin Magda begleitete. Sie stammt aus einer nichtjüdischen deutsch-polnischen Familie. Während wir in Lodz herumliefen, haben wir beide an unsere Großmütter gedacht, zu denen wir jeweils eine sehr enge Bindung hatten. Es waren ganz besondere Momente, als wir uns beide in Lodz über unsere Familiengeschichten ausgetauscht haben.
So kam dann auch der Filmtitel zustande. Damit ist der Film auch eine Verbindung von Geschichte und Gegenwart, der die Frage nach einem angemessenen Umgang der Dritten Generation mit dem Erbe der Schoa aufwirft.
Neben dem Filmen ist das Fotografieren meine große Leidenschaft. Mein kleines Fotostudio habe ich in meiner achtköpfigen Wohngemeinschaft in Neukölln eingerichtet. Meine Leidenschaft fürs Fotografieren verbinde ich gerne mit einem queeren Ansatz, das heißt zum Beispiel, einer kritischen Auseinandersetzung mit Geschlechternormen. Ich sehe mich selbst als sehr politischen Menschen. Ich liebe es, Porträtaufnahmen zu machen. Außerdem übernehme ich filmische Auftrags-Dokumentationen von Konferenzen und Diskussionsveranstaltungen. Ich habe mich dabei auf die Bereiche Feminismus, Gender und Antirassismus spezialisiert.
respekt An Religion glaube ich nicht. In den vier Jahren, in denen ich in Berlin lebe, war ich nicht ein einziges Mal in der Synagoge. Meine Familie ist ebenfalls nicht religiös. Ich lebe heute weder koscher noch feiere ich religiöse Feiertage. Dennoch habe ich vor meiner jüdischen Herkunft großen Respekt, sie ist ein Teil meiner persönlichen Geschichte und Identität. Ich habe viele israelische Freunde in Berlin. Ich liebe es, Hebräisch zu sprechen, wobei ich auch gerne Deutsch spreche, um es zu üben.
Meine Eltern in Israel besuche ich mindestens einmal pro Jahr, sie kommen aber auch öfter zu Besuch nach Berlin. Es gefällt ihnen sehr gut hier. Sie hatten nie ein Problem damit, dass ich in Berlin lebe, und auch nicht damit, wie ich hier lebe. In meiner Familie gab es auch nie Vorbehalte gegenüber Deutschland. Meine Eltern waren sogar auf ihrer Hochzeitsreise hier.
In Berlin ist Neukölln mein Kiez. Das internationale Flair im Bezirk gefällt mir. Das nahe gelegene Tempelhofer Feld ist mein zweites Wohnzimmer. Gerade im Sommer gehe ich so oft dorthin, wie es nur geht. Ich hänge einfach gerne mit Freunden ab. Die Kamera habe ich dann natürlich immer mit dabei. Das Fotografieren ist für mich nicht nur ein Job, sondern auch Teil meines künstlerischen Ausdrucks und meiner Freiheit. Ich möchte auf jeden Fall in Berlin bleiben. Ich bin glücklich hier. Ich möchte hier einfach gut leben können und die Sachen machen, die mich interessieren.
Der Umzug nach Berlin war damals ein Befreiungsschlag und ein Neuanfang für mich. Nach vier Jahren Berlin habe ich zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt das Gefühl: Es geht voran, es bewegt sich etwas in die richtige Richtung. Dieses Gefühl möchte ich bewahren und ausbauen.
Aufgezeichnet von Jérôme Lombard