Langsam füllen sich die Stuhlreihen im Leo-Baeck-Saal der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Zum vierten Mal hat die Gemeinde zum Gedenken an die Pogromnacht einen Zeitzeugen eingeladen. Mariana Rosenberg, geborene Marianne von Geldern, ist gekommen. Sie lebt heute in Teneriffa und hat 1938 die Pogromnacht in Düsseldorf miterlebt.
Die Initiatoren der Veranstaltung, Gabriel Goldberg, Jugendreferent des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein, und Bastian Fleermann von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, begrüßen an diesem Donnerstagnachmittag vor allem viele junge Teilnehmer. »Es ist ein Privileg, dass die heutige Jugend als letzte Generation noch die Möglichkeit hat, mit Zeitzeugen zu sprechen«, sagte Gabriel Goldberg. »Wisse, woher du kommst, dann weißt du, wohin du gehst«, benennt er das erklärte Ziel der Veranstaltung.
Verstehen Im Saal legt sich allmählich die Unruhe. Bedächtig und konzentriert hören die Gäste auf das, was Rosenberg aus ihrem Leben erzählt. Vieles, was während des Nationalsozialismus geschehen sei, habe sie damals mit ihren zehn Jahren nicht verstanden. Der plötzliche Schulwechsel, die Inhaftierung des Vaters, der Brand in der Synagoge.
»Meine ältere Schwester und ich lagen im Bett und hörten, wie die SA-Leute das Porzellan aus dem Schrank warfen. Wir zitterten vor Angst, dann kam ein SA-Mann ins Zimmer. Er sah uns an und sagte zu seinen Leuten: ›Hier sind Kinder, hier wird nichts gemacht‹«, erinnert sich Rosenberg an den 9. November 1938. Dass nicht mehr passiert ist, schreibt sie ihrem Aussehen zu: blond und blauäugig. Sie waren damals schon in der Wohnung des Onkels auf der Bilkerstraße, zwei Minuten entfernt von der brennenden Synagoge. Sei reicht Kinderbilder von sich und eine Buntstiftzeichnung von der alten Synagoge herum, die sie damals selbst gemalt hatte.
Schweigen Noch unmittelbar vor der Pogromnacht sprachen die Eltern nicht über das, was in Deutschland vor sich ging. Doch die älteren Geschwister verstanden die Worte des Nazi-Hetzblattes »Der Stürmer« und bemerkten, dass polnische Mitschüler aus der jüdischen Grundschule in der Kasernenstraße von einem Tag auf den anderen verschwanden.
»Es wartete immer ein etwas älterer Junge vor der Schule auf uns. Er ließ uns jüdische Kinder nur durchgehen, wenn wir ihm Süßigkeiten gaben«, erzählt Rosenberg. Die Stimmung in Düsseldorf verschlechterte sich zusehends. Das Glück der Familie Rosenberg waren zwei Brüder des Vaters, die in Chile lebten. Die Familie beantragte Visa. Der Vater, der im Konzentrationslager Dachau interniert worden war, kam frei.
Über Marseille fuhren sie mit einem italienischen Truppentransporter nach Übersee. Die Verhältnisse in Chile waren einfach. Die Familie von Geldern eröffnete eine Pension für Immigranten, wie sie es auch selbst gewesen waren. »Jeder wusste dort, dass wir Juden sind«, verteidigt Rosenberg die Südamerikaner, die oftmals als Antisemiten dargestellt werden.
»Mein Vater war ein stolzer Mann. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er auf deutscher Seite und bekam 1935 das Eiserne Kreuz von Hitler verliehen. Der Musterungsarzt bedauerte es, den ›arisch aussehenden Juden‹ nicht einberufen zu können. Mein Vater wollte aber auch ohnehin nie wieder in den Krieg ziehen«, erinnert sich Rosenberg. »In unserer Pension war immer gute Stimmung, dafür sorgte er mit seinem Kölner Humor.«
Irgendein Land 1953, damals war Mariana Rosenberg 25 Jahre alt, fuhr sie erstmals wieder nach Deutschland. Sie besuchte Familie und frühere Freunde der Eltern in Düsseldorf und Köln. Auf die Frage, was es für ein Gefühl war, antwortet die 84-Jährige, dass sie nur in irgendein Land gereist ist. Sie sei zur NS-Zeit einfach zu jung gewesen, um später und auch noch heute eine Abneigung zu empfinden. Sie wüsste nicht, was die Eltern gefühlt hätten.
Der heutige Antisemitismus scheint ihr fremd. Als eine Schülerin im Publikum erzählt, dass sie erst kürzlich als »Jüdin« beschimpft worden sei und dies nichts Außergewöhnliches sei, ist Mariana Rosenberg verwirrt: »Ich wusste nicht, dass Antisemitismus immer noch existent ist. Ich würde trotzdem versuchen, meine Mitmenschen aufzuklären, und ihnen die Sinnlosigkeit dieser Beleidigung zu verstehen geben.«
Familiär Dass zu dem Gespräch so viele junge Juden gekommen sind, freut die 84-Jährige. Der Zusammenhalt und die familiäre Atmosphäre berühre sie. An vier Düsseldorfer Schulen hat sie aus ihrem Leben erzählt und sei immer freundlich aufgenommen worden. Unterschiede zwischen den Fragen der jüdischen und nichtjüdischen Schüler gebe es ihrer Ansicht nach keine.
Nach Israel habe sie nie auswandern wollen, davor habe sie zu viel Angst gehabt. Trotzdem ist sie vom jüdischen Staat überzeugt. Denn für sie und ihre Eltern war das Schlimmste nach der Auswanderung, staatenlos zu sein. In Chile habe es lange gedauert, bis sie sich eingewöhnt hatten. Doch heute lebt sie auf Teneriffa und fühlt sich dem Spanischen verbunden.
Jean Bernstein, Leiter des jüdischen Jugendzentrums in Düsseldorf, findet solche Gespräche wichtig. »Wir sind die Letzten, die noch einen Dialog mit Zeitzeugen führen können. Den nachfolgenden Generationen bleiben nur Aufnahmen.«
»Lasst euch nicht unterkriegen, ihr müsst zusammenhalten«, appelliert Rosenberg an die meist jugendlichen Zuhörer an diesem Nachmittag. Am Abend nahm sie teil am Gedenkmarsch in der Düsseldorfer Innenstadt. Zusammen mit überraschend vielen jungen Menschen, jüdischen und auch vielen nichtjüdischen.