Am Dienstag war »Schalom Aleikum«, das jüdisch-muslimische Dialogformat des Zentralrats der Juden in Deutschland, wieder einmal im Kultur- und Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus zu Gast – dieses Mal in einer weiterentwickelten Form. So gab es unter dem Titel »Generation Neue Heimat« neben der bisher üblichen Podiumsdiskussion auch eine Reihe nicht öffentlicher Gespräche und Workshops für Jugendliche.
Thematisch lag diese Veranstaltung von Schalom Aleikum ganz am Puls der Zeit: Es ging um Flucht. »Das Thema ist so wichtig, so aktuell, aber auch so jüdisch und so muslimisch, dass wir jetzt etwas dazu machen müssen. Denn während des sogenannten Ukraine-Kriegs spielt das sowohl politisch als auch menschlich und mental eine riesige Rolle«, sagte Projektleiter Dmitrij Belkin. Auch der Ort war mit Bedacht gewählt: Denn in Leipzig stammt ein signifikanter Anteil der jüdischen Gemeinde ursprünglich aus der Ukraine.
Facettenreich Was während des öffentlichen Teils der Veranstaltung vor allem auffiel, war, wie facettenreich das Thema Flucht ist. Das lag auch an den Podiumsgästen, deren Biografien auf unterschiedliche Weise von Flucht geprägt wurden: So floh Meho Travljanin Anfang der 90er-Jahre als Kind vor dem Krieg aus Bosnien nach Berlin, wo er seit 2013 Vorsitzender des Islamischen Kulturzentrums der Bosniaken ist.
Dagegen ist Umer Rashid Malik nicht selbst geflohen, er kam bereits in Deutschland, genauer: in Wiesbaden, zur Welt. Seine Eltern verließen ihre Heimat Pakistan, um Schutz vor religiöser Verfolgung zu suchen. Denn die Ahmadiyya-Gemeinde, der sie angehören, wird von vielen Muslimen nicht als muslimisch angesehen und geächtet. Heute ist Malik Imam der Leipziger Ahmadiyya-Gemeinde.
Die beiden Frauen auf dem Podium sind hingegen als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Irina Shraibmann als Teenager, die Schriftstellerin Svetlana Lavochkina dagegen als erwachsene Frau und werdende Mutter.
Neues »Flucht ist gleichzeitig ein Tod und eine Geburt«, sagte Lavochkina. Auf der einen Seite müsse man vieles zurücklassen. Doch was ist die Geburt? »Eigentlich die neuen Leute im Leben – und die neue geistige Heimat«, sagt sie im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. »Die Menschen wissen gar nicht, was ihnen Schönes passieren wird.«
Gleichzeitig hob die gebürtige Ukrainerin in ihrem Anfangsstatement hervor, wie sehr sich ihre Flucht aus ihrer Heimat damals von der der Menschen heute unterscheidet: »Wir Kontingentflüchtlinge hatten vor, das Land zu verlassen, wir waren vorbereitet. Daher konnte ich das fast als ein Abenteuer erleben.« Die Ukrainer, die heute kommen würden, seien dagegen Vertriebene, die sich vollkommen unvorbereitet vor dem Angriff der russischen Armee in Sicherheit bringen müssen. Das sei auf ganz andere Weise schmerzhaft.
Vor allem für Kinder sei es wichtig, Normalität zu erleben, sagt Lavochkina.
Vor allem für Kinder sei es wichtig, Normalität zu erleben, sagt Lavochkina. Auf konkrete Hilfe für die Geflüchteten angesprochen, strich Lavochkina, die auch als Lehrerin arbeitet, die Bedeutung der Schule heraus. Gerade für Kinder sei es unglaublich wichtig, Normalität zu erleben – und natürlich die Sprache zu lernen.
Hilfsnetzwerke Auch der Blick der Immobilienfachfrau Irina Shraibmann war von ihrem Beruf geprägt: Sie erzählte vor allem über die Hilfe, die heute geleistet wird – gerade auch von jüdischen Gemeinden. Angesichts der Fluchtbewegungen aus der Ukraine hätte sich in ihrem Umfeld ein informelles Hilfsnetzwerk gebildet, in dem Ärzte und Transportunternehmer oder eben Immobilienfachleute wie sie versuchen, ihre beruflichen Kompetenzen einzusetzen, um Geflüchteten zu helfen.
Und sie erzählte, wie unterschiedlich die Geflüchteten aus der Ukraine mit ihrer Situation umgehen – und zwar anhand ihrer eigenen Familie, die sie zurzeit beherbergt. So würde sich ihr 14-jähriger Neffe in Deutschland recht wohlfühlen, die Großmutter hingegen weine jeden Tag und würde am liebsten sofort nach Kiew zurück.
Wie wichtig Sprache im Umgang mit Geflüchteten sein kann, erzählte Meho Travljanin anhand eines Begriffes, der seine ersten Jahre in Deutschland geprägt hat wie kein anderer: die »Duldung«. Denn in den 90er-Jahren waren die Menschen, die vor dem Krieg auf dem Balkan geflohen waren, lediglich »geduldet« – ein Schwebezustand, in dem sie weder eine gesicherte Zukunft hatten noch arbeiten durften – und in dem sie sich nutz- und wertlos fühlten.
mittelpunkt Auch heute noch wird Travljanin emotional, wenn er darüber nachdenkt. »Das ist ein Wort, das ich am liebsten aus dem Duden streichen würde. Ich kann einen Juckreiz dulden, aber doch keine Menschen!« Zum Glück hätte man in Deutschland dazugelernt und würde mit den Geflüchteten aus der Ukraine heute anders umgehen. »Es müssen die Menschen im Mittelpunkt stehen«, sagt Travljanin, »Man muss ihnen das Gefühl geben, dass sie wertvoll sind«.
Imam Umer Rashid Malik hob hingegen die Bedeutung des Glaubens und der Gemeinde hervor, wenn es darum geht, sich in einem neuen Land eine Heimat zu schaffen: »Der Glaube und die Traditionen sind etwas, womit man sich identifizieren kann. Man kann sich in den Glauben zurückziehen und Halt finden«, sagt er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Zum Glauben gehöre aber auch wesentlich die Gemeinde, mit der man etwas gemeinsam unternehmen könne, so Malik. »Egal, welcher Konfession man angehört: Diese Gemeindearbeit ist sehr wichtig.«
Zu vielen dieser Aspekte hätte man an diesem Abend gerne noch mehr gehört, doch die Breite des Themas und die Kürze der Zeit ließen keine vertiefte Diskussion zu. Das Interesse aber an weiterem Austausch besteht ganz eindeutig. Das zeigte sich auch daran, dass die Menschen, die an diesem Abend den Weg ins Ariowitsch-Haus gefunden hatten, dann auch zum gemeinsamen Fastenbrechen blieben – schließlich begehen die Muslime zurzeit den Fastenmonat Ramadan – und miteinander ins Gespräch kamen. Und so war die Veranstaltung trotz der eher geringen Besucherzahl am Ende ein Erfolg.