Der Geruch von Gegrilltem liegt in der sonntäglichen Luft, während italienische Wortfetzen das mehrsprachige Stimmengewirr in einem Hinterhof in Berlin-Mitte bereichern. Vergeblich bemüht sich der gebürtige Hamburger Asher Mattern, seine drei Kinder für ein Familienfoto mit ihm und seiner aus Florenz stammenden Frau Yael Merlini zusammenzutrommeln. »Wir haben unsere Kinder seit Freitag nicht mehr gesehen«, erklärt Mattern entschuldigend.
Wie mehrere jüdische Familien aus ganz Deutschland sind auch Mattern und Merlini mit ihren Kindern der Einladung der Gemeinde Kahal Adass Jisroel zu einem Pre-Pessach-Workshop in die Berliner Brunnenstraße gefolgt.
»Eines der Gebote am Sederabend ist, dass Eltern ihren Kindern erklären, was da los ist und was beim Auszug aus Ägypten passiert ist«, beschreibt Mikhail Tanaev, Vorsitzender der modern-orthodoxen Gemeinde, das Ziel der Veranstaltung. »Nicht alle haben schon die Erfahrung gemacht, einen Seder selbst zu führen. Das versuchen wir, den Eltern beizubringen. Für die Kinder ist das Programm eher musikalisch, sie sollen vorher wissen, wie der Seder ablaufen wird.«
Musik Für die Musik ist an diesem Sonntag der Leipziger Rabbiner Zsolt Balla zuständig. Der gebürtige Ungar hat sich als »rockender Rabbi« bereits einen Ruf erarbeitet. In Berlin begleitet er Pessachlieder mit der Gitarre und fordert Kinder wie Erwachsene zum Mitsingen auf: »Freie Menschen singen!«
Gesungen habe schließlich schon Moses auf dem Weg durch das Schilfmeer. Dazwischen weiß Balla sein Publikum mit Anekdoten zu unterhalten wie der vom ersten dokumentierten Döner der Weltgeschichte, der selbstverständlich eine jüdische Erfindung sei: in ungesäuertes Brot eingewickeltes Fleisch vom Pessachlamm mit bitteren Kräutern.
Während Zsolt Balla singt und spricht, sind ein Stockwerk höher die Kinder mit Schere, Stift und Papier zugange. Das Ergebnis der Bastelarbeit ist ein hebräisch beschrifteter Sederteller, den der siebenjährige Ruben stolz präsentiert. Über die Frage, was auf seinem Teller alles zu sehen ist, muss er noch etwas länger nachdenken. »Das sind die Sachen, die man an Pessach essen muss«, kommt ihm seine elfjährige Schwester Ainelle zu Hilfe.
afikoman Ainelle verrät auch, was für sie das Schönste an Pessach ist: »Afikoman suchen, und dann die Geschenke. Bei uns gibt es meistens ein Geschenk für die ganze Familie.«
Ruben, Ainelle und ihre große Schwester Gemma (13) sind die Kinder des deutsch-italienischen Ehepaars Asher Mattern und Yael Merlini. Die Familie wohnt in Gießen, wo die drei Geschwister die wohl einzigen religiösen jüdischen Kinder in der Stadt sind. »Es ist sehr wichtig für sie, hier andere jüdische Kinder zu sehen«, betont Vater Asher Mattern.
Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum die Familie für das verlängerte Wochenende nach Berlin gekommen ist. Mattern, der an der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien arbeitet und Vorbeter in der kleinen jüdischen Gemeinde in Gießen ist, sagt: »Auch für uns Eltern ist es wichtig, Input zu bekommen, nicht nur welchen zu geben, wie wir es in Gießen machen. Wir sind hier, um uns auszutauschen, mit der Tradition zu wachsen, uns weiterzuentwickeln.«
Schiur Input bekommen die Erwachsenen in der Synagoge der Gemeinde Kahal Adass Jisroel auch von Rabbiner Josh Spinner.
Er stellt eine Interpretation der vier Söhne der Haggada vor, in denen diese symbolisch für unterschiedliche Generationen stehen. Bezogen auf seine Biografie, so Spinner, seien diese Gelehrten die Groß- oder Urgroßeltern gewesen, die einst nach Amerika auswanderten: »Sie wussten alles, sie lebten die Jiddischkeit.«
Dann kam die Generation, für die der böse Sohn steht, die Generation, die bereits aufgab, die anstatt in die Synagoge tanzen ging, zum Jom-Kippur-Ball. »Die darauffolgende Generation habe noch eine Verbindung zu den Großeltern und zur Tradition, die vierte hingegen wisse gar nichts und könne nicht einmal Fragen stellen: »Die Großeltern sind die Bösen, die inzwischen schon zu alt für den Jom-Kippur-Ball sind.«
lebenslustig Asher Mattern kann sich in diesem Generationenmodell wiederfinden: »Es wäre zwar vermessen, sich selbst als Weisen zu bezeichnen. Doch in diesem Bild sind wir die erste Generation. Es gibt eine Rückkehr zum Judentum. Das ist wie ins kalte Wasser springen, etwas riskieren. Die Früchte sind nicht sofort klar, aber wir hoffen, dass für unsere Kinder daraus ein sinnvoller Lebenszusammenhang entsteht.«
Die Kahal-Adass-Jisroel-Gemeinde, da sind sich Asher Mattern und seine Frau Yael Merlini einig, spielt eine wichtige Rolle bei dieser Wiedergeburt jüdischen Lebens. »Es ist toll, was in dieser Gemeinde passiert«, sagt Mattern mit Blick auf die herumtobenden Kinder. »Das hier ist ernsthaft und gleichzeitig lebendig. Lebenslustig, nicht verbissen.«