Porträt der Woche

Fit für den Gottesdienst

Aviv Weinberg ist freie Kantorin und kommt an den Hohen Feiertagen viel herum

von Christine Schmitt  26.09.2016 19:36 Uhr

»Beim Gottesdienst geht es um die Beter, nicht um mich«: Aviv Weinberg (40) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Aviv Weinberg ist freie Kantorin und kommt an den Hohen Feiertagen viel herum

von Christine Schmitt  26.09.2016 19:36 Uhr

So früh wie möglich aufstehen, schwimmen, Sport treiben, genug Schlaf und Essen, das auch bei Leistungssportlern auf den Tisch kommt – so sieht ein Teil meiner Vorbereitungen für die Hohen Feiertage aus. Ach ja, und viel putzen – für mich ist das eine Art Meditation, denn dabei kann ich mich entspannen: Denn ich will und muss nicht nur stimmlich, sondern auch körperlich fit sein für die Gottesdienste.

Aber nicht nur das – ich muss mich auch inhaltlich intensiv darauf vorbereiten. Das heißt für mich: die entsprechende Literatur heraussuchen, mit dem Rabbiner über Skype viele Gespräche führen und gemeinsam eine Abfolge festlegen. In diesem Jahr werde ich wieder in Warschau in der Reformgemeinde Etz Chaim amtieren. Dort gefiel es mir im vergangenen Jahr so gut, dass ich gerne wiederkomme.

freelancer Vor zwei Jahren habe ich mein Studium als Kantorin am Abraham Geiger Kolleg beendet. Seitdem singe ich als Freelancer. Dadurch komme ich viel herum und lerne viele Städte in Deutschland und im Ausland kennen. In Brüssel habe ich auch einmal an den Hohen Feiertagen amtiert und wurde kurz vorher krank. Ich wusste, dass ich diese Termine nicht würde absagen können, denn ich wurde erwartet und gebraucht. No Way! Also sprach ich mir selbst Mut zu und versuchte, meinen Husten zu überwinden. Ich habe es geschafft, und diese Erfahrung hat mich stark gemacht.

Mittlerweile reicht mein Terminplan bis weit in das Jahr 2017 hinein, was mich natürlich sehr freut. Aber mich interessieren neben den jüdischen Gottesdiensten auch interreligiöse Projekte. Beispielsweise bin ich regelmäßig bei einer christlichen Gemeinde in Hamburg, wenn gemeinsame Feiern wie Chanukka-Weihnachten oder Ostern-Pessach im Kalender stehen.

Im Sommer bin ich immer bei einem Israel-Tag in Spandau dabei, und vor Kurzem trat ich beim Achava-Festival in Weimar als Vertreterin des Judentums auf, wo auch Kantoren anderer Religionen mit auf dem Podium standen. Worauf ich besonders stolz bin und was mich glücklich macht, ist, dass meine Jazz-Band einen Live-Mitschnitt als CD herausbringt. Das ist auch an der Zeit, denn ich singe mittlerweile seit 20 Jahren professionell.

stimme Schon als kleines Mädchen habe ich leidenschaftlich gern gesungen. Auf dem Kassettenrekorder spielte ich die Songs von Whitney Houston rauf und runter, dann studierte ich sie mit ihr zusammen ein – ihre Stimme kam vom Band – und nahm mich schließlich selbst auf. Ich war neugierig, wie ich klang, und wollte daran weiter feilen.

In Holon in Israel, wo ich aufgewachsen bin, galt ich in meiner Grundschule als Klassenclown und liebäugelte mit der Schauspielerei. Eines Tages kam die Chorleiterin, um Kinder mit schönen Stimmen für ihr Ensemble zu gewinnen. Sie nahm mich auf. Die Lehrerin war begeistert, und ich bekam sogar ein gutes Feedback von meinen Mitschülern.

An meinen ersten Auftritt kann ich mich noch bestens erinnern, denn ich war so aufgeregt – ich stand als einziges Mädchen auf der Bühne. Meine Stimme wurde immer leiser. Doch die Lehrerin fand eine Lösung und wählte ein weiteres Mädchen aus, sodass wir gemeinsam sangen – zu zweit ging es dann besser. Von da an galt ich während meiner ganzen Schulzeit als »das Mädchen mit der schönen Stimme«.

Nach der Armee studierte ich in Jerusalem Gesang und bekam ein Engagement für ein Musical. Ich erhielt eine gute Ausbildung. Das war ein Geschenk für mich. Nach 50 Auftritten war Schluss, und das Musical wurde abgesetzt.

struktur Als Musiker will man sich weiterentwickeln. Für mich war es ein organischer Prozess, nach Deutschland zu gehen, wo ich mittlerweile seit zehn Jahren lebe. Als ich in Berlin ankam, glaubte ich, es sei nur für ein paar Monate. Dass es Jahre werden würden, hätte ich damals nicht gedacht.

Ich kam mit der Idee nach Berlin, hier weiter Gesangsunterricht zu nehmen. Dass ich als Frau die Möglichkeit habe, auch Kantorin zu werden, wusste ich zu dieser Zeit noch nicht. In Israel kannte ich Kantorinnen nur aus ultraorthodoxen Gemeinden, wo sie jedoch nur vor Frauen singen.

Bis auf den Gesangsunterricht hatte ich wenig Struktur in meinem Alltag. Das änderte sich glücklicherweise, als ich Englisch unterrichten konnte – das mache ich bis heute. In einer Kita spreche ich mit Vier- bis Fünfjährigen mehrere Stunden pro Woche Englisch, womit ich mich auch finanziere und einen strukturierten Tag habe. Aber noch viel wichtiger ist es für mich, dass ich diese Aufgabe mag.

Wahrscheinlich habe ich die Begeisterung fürs Unterrichten von meiner Mutter geerbt, die Grundschullehrerin ist. Die Kinder sind so kreativ und »magic«. Ich schreibe auch selbst Kinderbücher, aber sie sind nicht veröffentlicht. Ich kann wunderbar für die Schublade arbeiten.

studium Meine damalige Yogalehrerin schlug mir vor, mich am Kantorenseminar des Abraham Geiger Kollegs in Potsdam zu bewerben. Yoga mache ich bei ihr leider nicht mehr, aber mit dem Studienplatz hat es geklappt. Von da an hatte ich ein anspruchsvolles Programm für die nächsten fünf Jahre.

Für mich haben sich ganz neue Welten aufgetan, und ich habe viel gelernt. Etwa, dass es für jedes Buch eigene Melodien und einen eigenen Duktus gibt. Auch lernte ich die Literatur verschiedenster Komponisten kennen. Die Dozenten waren großartig: Ich habe in dieser Zeit so viel gelernt, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte – ich bin ja klassisch ausgebildet und habe nun daran gearbeitet, mich auf die Gemeinde einzustellen. Wenn ich mit den Betern singe, halte ich mich ganz streng an den Rhythmus. Wenn ich aber allein singe, dann erlaube ich mir Freiheiten.

Anfangs hatte ich vor meinen Auftritten sehr mit meiner Aufregung zu kämpfen und musste mich selbst beruhigen. Meine Erfahrung ist, dass ich mental arbeiten muss, um einen Fluss im Körper zu finden und schön singen zu können. Es geht um die Beter, nicht um mich, sage ich mir. Dann fühle ich mich wohler. Besonders von den Dozenten Eli Schleifer und Israel Goldstein habe ich viel profitiert.

Vor zwei Jahren sind meine Kommilitonen und ich in Breslau bei einer schönen Feier ordiniert worden. Wir sind seit unserem Studium befreundet, unterstützen einander heute noch und tauschen Erfahrungen aus. Wir sind Freunde fürs Leben.

harry potter Während meiner Ausbildung als Kantorin absolvierte ich auch Praktika bei Gemeinden in Göttingen, Hannover, Hamburg, Berlin und München. Der Einsatz in München hat mein Leben verändert: Seitdem gibt es eine Zeit vor Harry Potter und eine danach. Denn als ich dort an den Hohen Feiertage amtierte, zog Rabbiner Tom Kucera den ersten Band auf Hebräisch aus dem Regal und gab ihn mir. Nun stehen alle Bände und Filme von Harry Potter in mehreren Sprachen in meinen Kisten.

Mein Freund und ich haben gerade eine Wohnung in Spandau gefunden und sind noch am Renovieren und Einrichten. Wir wollten etwas ruhiger wohnen, naturnah, deshalb zog es uns nach Spandau. Mein Keyboard hat schon seinen Platz gefunden.

Oft fliege ich nach Israel, denn meine Schwester und mein Bruder haben Kinder, mit denen ich auch Zeit verbringen möchte. Und natürlich mit meinen Eltern und meinen Freunden. Aber auch in Berlin habe ich viele Leute kennengelernt, und meine Familie kommt mich oft besuchen. »I am here«, dachte ich damals und war überrascht, wie schnell ich mich hier eingelebt habe. In meinem Sprachkurs fand ich zwei beste Freundinnen fürs Leben. Auch ein Palästinenser lernte mit mir Deutsch – und wir hatten kein Problem miteinander. Hier sind alle Nationen vertreten, und es gibt keinen Streit.

In Israel ist das Leben hektischer, und die Menschen haben weniger Geduld – auch deshalb gefiel es mir in Berlin auf Anhieb. Ich musste mich auch von Israel entfernen, um dem Judentum näherzukommen.

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung

von Christine Schmitt  13.03.2025

Bundeswehr

»Jede Soldatin oder jeder Soldat kann zu mir kommen«

Nils Ederberg wurde als Militärrabbiner für Norddeutschland in sein Amt eingeführt

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Hamburg

Hauptsache kontrovers?

Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wurde die »Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 2025 – 5785/5786« eröffnet. Die Preisträger sind in der jüdischen Gemeinschaft umstritten

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Purim

Schrank auf, Kostüm an

Und was tragen Sie zum fröhlichsten Fest im jüdischen Kalender? Wir haben uns in der Community umgehört, was in diesem Jahr im Trend liegt: gekauft, selbst gemacht oder beides?

von Katrin Richter  13.03.2025

Feiertag

»Das Festessen hilft gegen den Kater«

Eine jüdische Ärztin über Alkoholkonsum an Purim und die Frage, wann zu viel wirklich zu viel ist

von Mascha Malburg  13.03.2025

Berlin

Persien als Projekt

Eigens zu Purim hat das Kunstatelier Omanut ein Wandbild für die Synagoge Pestalozzistraße angefertigt

von Christine Schmitt  13.03.2025

Wilmersdorf

Chabad Berlin lädt zu Purim-Feier ein

Freude sei die beste Antwort auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 12.03.2025

Purim

An Purim wird »We will dance again« wahr

Das Fest zeigt, dass der jüdische Lebenswille ungebrochen ist – trotz der Massaker vom 7. Oktober

von Ruben Gerczikow  12.03.2025

In eigener Sache

Zachor!

Warum es uns besonders wichtig ist, mit einer Sonderausgabe an Kfir, Ariel und Shiri Bibas zu erinnern

von Philipp Peyman Engel  11.03.2025 Aktualisiert