Die Frau, die in Harry Kemelmanns Kriminalroman Am Samstag aß der Rabbi nichts den Rabbiner anrief, war sehr aufgeregt. Ihr Mann sei zu Jom Kippur zur Hagbah eingeteilt, aber nun mache sie sich Sorgen, denn er sei herzkrank und könne unmöglich die schwere Tora hochhalten, gibt sie zu bedenken. Wie die Geschichte weitergeht, wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten. Dafür stellt sich nun, kurz vor Simchat Tora, eine ähnliche Frage wie die der besorgten Gattin: Kann es nicht sein, dass es für manche Gemeindemitglieder viel zu anstrengend ist, mit der bis zu 20 Kilogramm schweren Tora zu tanzen?
Nein, der Tanz mit der Tora sei eigentlich keine körperliche Herausforderung, sagt Rabbiner Henry G. Brandt. »Zum einen, weil es ja meist mehrere, unterschiedlich schwere Exemplare gibt.« Für die leichteren, die man an diesem Feiertag meist nimmt, wurde dünneres Pergamentpapier und leichteres Holz benutzt. »Zum anderen tanzen wir ja mit der eingerollten Tora, die dazu auch nicht hoch über dem Kopf, sondern im Arm gehalten wird.«
Man passe immer auf, dass der Schriftrolle kein Schaden zugefügt werde, betont Brandt, entsprechend suche man beispielsweise bei den Gottesdiensten »schon die Leute aus, die ein bisschen mehr Kraft und entsprechend kein Problem damit haben, die Torarolle hochzuheben.«
Was aber, wenn ein gebrechliches Gemeindemitglied sich nichts sehnlicher wünscht, als an Simchat Tora mit der Tora zu tanzen? »Dann muss man milde abraten«, sagt Brandt, »und darauf dringen, dass sie sie nur berühren, aber eben nicht tragen. Im Englischen gibt es den schönen Begriff des Common sense.«
Erinnerung An sein erstes Tora-Freudenfest kann sich Brandt noch gut erinnern, obwohl es schon mehr als 70 Jahre zurückliegt. »Es war 1937, ich war zehn Jahre alt. Dort am Herzog-Max-Platz, wo heute ein großer Gedenkstein steht, befand sich damals die liberale Synagoge, die die Familie Brandt besuchte. Allerdings nicht immer. »Solche Spannungen wie heute hatten wir damals nicht, und deswegen war es für meine Eltern ganz normal, dass wir zu Simchat Tora in die orthodoxe Synagoge gingen. In der liberalen ging es ein bisschen nüchterner zu, dort gab es zudem nur Papierfähnchen, während man in der orthodoxen richtig große Stofffahnen hatte. Und außerdem«, setzt Brandt lachend hinzu, »waren dort die Bonbontüten für die Kinder größer.«
Zwei Jahre später erlebte der kleine Henry G. Brandt sein erstes Simchat Tora im Exil. »In Tel Aviv. Es war sehr lustig, ich habe mitgetanzt«, erinnert sich der Rabbiner. Gleichzeitig erklärt Brandt allerdings: »Man muss die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß finden; Freude mit der Tora ja, aber eben keine Gaudi«, betont er.
Vorbereitung Ganz wichtig sei dabei auch, die Kinder und Jugendlichen auf das Fest vorzubereiten. »Ich habe sie meist vorher in der Synagoge um mich versammelt und ihnen eine leichte Geschichte über die Tora erzählt, und anschließend wurde dann gefeiert.«
In Augsburg ist an Simchat Tora ausnahmsweise sogar Musik erlaubt: »Normalerweise feiern wir unsere Gottesdienste ohne Musik, aber zum Tanzen werden wir dann doch musikalisch begleitet, schließlich ist es gut, einen vorgegebenen Takt zu haben.«
Er habe die Tora nie gewogen, sagt Rabbiner Avichai Apel von der Dortmunder Gemeinde. »Und natürlich kann es manchmal anstrengend sein, sie hochzuhalten. Aber wenn man sich freut und gesund ist, dann ist es kein Problem. Wir nehmen natürlich für die älteren Gemeindemitglieder und die Kinder auch die kleinere und leichtere aus dem Schrank.« Man müsse eben »vorsichtig und achtsam sein«. Wenn das nicht gewährleistet sei, müsse man so viel Einsicht zeigen, und auf das Tragen der Torarolle verzichten.
Zurückhaltung Selbst Jugendliche, die sonst nicht so fürs Tanzen zu haben seien, machten mit, versichert Apel. »Wenn sie mit den Freunden aus dem Jugendzentrum zusammen sind, dann läuft das schon. Daran sieht man auch, wie wichtig diese sozialen Verbindungen sind.«
»Ein starker Mann kann jede Torarolle tragen«, sagt der Landesrabbiner in Mecklenburg-Vorpommern, William Wolff und meint, man könne auch ohne Tora mittanzen. Bevor die Familie Wolff 1933 emigrierte, hatte der kleine William schon in Berlin Simchat-Tora-Feiern erlebt. Dort wie auch später in Amsterdam, wo man bis 1939 lebte, wurde allerdings nicht getanzt, »wir Kinder bekamen Papierfahnen«, erinnert er sich. In all den Jahren, so betont er, habe er allerdings »niemals erlebt, dass die Tora fallen gelassen wurde«. Das würde, so fügt er hinzu, »für die Gemeinde auch Konsequenzen haben, denn sie müsste dann 24 Stunden lang fasten.«
Das Gemeindeleben sei in Schwerin, Rostock und Wismar noch im Aufbau, erzählt Wolff. Wenn die Feiertage auf Wochentage fielen, könne man nicht allzu viele Leute erwarten. »Die Tradition ist einfach noch nicht so ausgeprägt wie in den großen jüdischen Gemeinden in Westdeutschland. Aber, und darauf bin ich stolz: Wir hatten noch nie ein Problem mit dem Minjan, mussten uns nie den Kopf darüber zerbrechen, ob genügend Beter kommen werden.«