Die Frage trieb nicht nur die einladenden Institutionen um: »Jüdisches Leben in Deutschland«, was ist das eigentlich? Das wollte die Friedrich-Ebert-Stiftung gemeinsam mit dem Deutschen Kulturrat am Mittwoch vergangener Woche wissen, und der Zentralrat der Juden hatte organisatorisch geholfen. Schließlich werden von ihm etwa 100.000 Juden vertreten, und das Judentum hat sich in den vergangenen 20 Jahren sehr verändert. Wiedervereinigung, Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion und der Tod vieler Schoa-Überlebender.
Alles versprach also, eine »besondere Veranstaltung« zu werden, wie Zentralratspräsident Josef Schuster gleich zu Beginn in den Räumen der Berliner Ebert-Stiftung lobte. Schusters Optimismus war berechtigt: Nicht nur, dass es zu einer innerjüdischen Verständigung über neue Themen, Probleme und Herausforderungen kam, sondern es setzten sich auch Entscheidungsträger aus Politik und Kultur mit den Aspekten auseinander, die für Juden in der Gegenwart von Bedeutung sind.
prominenz Präsident Josef Schuster und Geschäftsführer Daniel Botmann vertraten prominent den Zentralrat. Und mit Dalia Grinfeld von der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Alina Gromova von der Akademie des Jüdischen Museums, Jael Botsch-Fitterling von der Berliner Gesellschaft für Jüdisch-Christliche Zusammenarbeit oder Dmitrij Belkin vom Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) waren weitere kompetente jüdische Stimmen vertreten. Und damit es für das große Themenspektrum, das jüdisches Leben im Jahr 2017 ausmacht, auch verständige und informierte Fragen und Nachfragen gibt, konnte die Journalistin Shelly Kupferberg für die Moderation gewonnen werden.
Es ging um Altersarmut, um die Erfahrungen des deutschen Judentums mit der Integration von Zuwanderern, um Antisemitismus, die AfD-Erfolge und Diskussionen über Beschneidung und Schächten. Auch Themen, die oft als heiße Eisen gelten, wurden behandelt. Es ging um Subventionen, schwindende Mitgliederzahlen der Gemeinden oder die Frage, ob in Anbetracht von Islamophobie und Antisemitismus »Schulterschlüsse« – ein erstaunlich häufig verwendetes Wort an diesem Nachmittag – mit muslimischen Gemeinden zu vollziehen seien. Und es ging auch um sehr aktuelle Dinge wie die jüngsten Israelbesuche von Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier.
Josef Schuster erinnerte daran, dass Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten ist – mit nicht überhörbarem Bezug zum Bundesaußenminister. »Als Diplomat sollte man hier einmal genauer nachdenken, ob man die Beziehungen in diesem Klima riskieren oder weniger forsch auf die Probe stellen muss«, stellte er in den Raum. Und fand Gehör. Thorsten Schäfer-Gümbel, Vizevorsitzender der SPD, versuchte eine Erklärung des Gabriel-Eklats: Der frühere SPD-Vorsitzende sei ein emotionaler Mensch, der sich keine Vorschriften machen lassen wolle; er sei selbst einmal mit Gabriel in China gewesen, wo dieser ebenfalls auf dem Treffen mit einer Menschenrechtsgruppe bestanden hatte. Er sage das, »ohne zu vergleichen«. Diese Erklärung wiederum wies Daniel Botmann deutlich zurück; eine solche wie auch immer gedachte Parallelisierung der Demokratie im jüdischen Staat und der Repression in der Volksrepublik verbiete sich.
gesprächsklima Es sprach für das Gesprächsklima in der Ebert-Stiftung, dass alle Akteure zu einer rücksichtsvollen Kommunikation zurückkehrten. Einigkeit herrschte über die Gefahr, die von Parteien und Bewegungen wie Pegida oder der AfD ausgehe und für ein politisches Klima sorge, das Antisemitismus hoffähig mache. »Die AfD hat die Schwelle des Sagbaren verschoben«, bemerkte Daniel Botmann. Und Thorsten Schäfer-Gümbel wie auch Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat analysierten, dass die AfD mit einem »Kulturkampfprogramm« in den Bundestagswahlkampf ziehe.
Als Josef Schuster die das Gros der Zuwanderer betreffende Altersarmut darstellte – und zugleich das Missverhältnis gegenüber der Rentenanrechnung für sogenannte Spätaussiedler erwähnte –, bekannte Schäfer-Gümbel, sich zwar mit diesem Thema noch nicht beschäftigt zu haben, versprach aber: »Ich biete an, es politisch zu begleiten.«
Demokratieverständnis So gingen denn alle Beteiligten trotz unübersehbarer Gefahren und Probleme letztlich optimistisch aus dem Gespräch. Daniel Botmann betonte, dass doch alle relevanten Religionsgruppen in Deutschland ein positives Verhältnis zur Demokratie hätten und Religionsfrieden bestehe. »Darauf sollten wir stolz sein.«
Dalia Grinfeld berichtete, dass sie und ihre Generation ein neues deutsch-jüdisches Selbstbewusstsein hätten. »Juden anderer Länder bemerken oft: Die jungen Juden aus Deutschland, die haben Feuer unterm Tuches.«
Alina Gromova sprach darüber, ob es nicht eine gewisse Privilegierung jüdischer Gemeinden gebe, die eine Chance für die Verbesserung von Minderheitenrechten insgesamt böte. »Hier könnten jüdische Gemeinden eine Verantwortung übernehmen.« Als Beispiel nannte Gromova das »Jüdisch-Islamische Forum«, das im Jüdischen Museum eingerichtet wurde. Jüdische Institutionen, so ihre Einschätzung, seien stark genug, auch Platz für andere Minoritäten zu bieten.
vernetzung Jael Botsch-Fitterling sagte, dass es in Deutschland immer noch großen Mutes bedürfe, zu sagen, dass man der Minderheit der Juden angehört. Und Dmitrij Belkin dachte laut darüber nach, ob die jüdische Community nicht von anderen migrantischen Netzwerken in Deutschland etwas lernen könne. Bessere Vernetzung könne helfen, das Jüdischsein selbstverständlicher zu machen – »damit wir nicht immer wieder die Sache mit Gabriel und Steinmeier erklären müssen«. Schließlich sei, so Belkin, jüdisches Leben heutzutage von vielen Ambivalenzen geprägt, zu denen man bewusst stehen solle.
Ein Gedanke, den auch Josef Schuster bekräftigte. »Jüdisches Leben ist wieder von Vielfalt geprägt«, sagte er und fügte aber doch die Besonderheit hinzu, eine Minderheit zu sein. Juden selbst sähen sich selbstverständlich als integraler Teil der Gesellschaft, »doch erlebe ich immer wieder, dass dies nicht für alle so selbstverständlich ist«.