Vor der Synagoge Fraenkelufer in Berlin-Kreuzberg steht ein Mannschaftswagen mit zehn Polizisten – eine Stunde vor dem Gottesdienst. »Wir sind hier, damit Trittbrettfahrer keine Chance bekommen«, sagt einer der jungen Beamten im Auto und lächelt zuversichtlich.
Nach dem Überraschungsangriff von Hamas-Terroristen am Samstag auf den Staat Israel mit Hunderten von Toten, Tausenden Verletzten und Geiselnahmen israelischer Zivilisten ist die Sicherheit vor jüdischen Einrichtungen in Deutschland verstärkt worden.
»Den ganzen Tag gab es Anrufe: Können wir heute Abend zum Gottesdienst kommen? Ist es sicher?«, sagt Nina Peretz, Gabbait der Synagoge. Viele Gemeindemitglieder – auch die Autorin dieser Zeilen - haben sich gefragt: Können wir, dürfen wir überhaupt Simchat Tora feiern, das Torafreudenfest, während die Zahl der Todesopfer in Israel ständig steigt?
SÜSSIGKEITEN Das hat auch Jonathan Marcus beschäftigt, der wie Nina Peretz dem Vorstand der Synagoge angehört. Einer der beliebtesten Bräuche an Simchat Tora ist es, Süßigkeiten an die Kinder zu verteilen. Am Fraenkelufer werden sie traditionell von der Frauenempore geworfen, während Zwei-bis Zwölfjährige sie unten auffangen und sich um Bonbons und Schokolade reißen.
Aber ist das heute in Ordnung? An einem Tag, an dem nicht weit von der Kreuzberger Synagoge entfernt, auf der Sonnenallee in Neukölln, die propalästinensische Organisation »Samidoun« Süßigkeiten verteilt hat, um die Terroranschläge gegen Israel und Israelis als »Sieg des Widerstandes« zu feiern?
Im Kidduschraum der Synagoge wird lautstark über Sicherheitsregelungen diskutiert. Im Hof steht die Sukka, in der die Kinder bis eben noch gespielt haben. Im kleinen Betsaal begrüßt Simon Zkorenblut die Gemeindemitglieder mit Handschlag. Langsam füllt sich der Raum, wenn auch nicht zur Gänze. Es sind weniger Besucher als in den Vorjahren. Aber der Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Berlin strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Es wird keine große Party geben, sagt er, keine Freudengesänge. Aber trotz allem ein Fest.
hoffnung Eine Feier mit Konzentration auf das Wesentliche. Die Tora sei »der Baum des Lebens für die, die sie ergreifen«, zitiert Jonathan Marcus in einer kurzen Rede und erklärt, wie der Gottesdienst ablaufen wird: Die Hakafot, die sieben Runden mit den Torarollen um die Bima, sollen nicht ausfallen – sie sollen sich nur auf die hintere Hälfte der Synagoge beschränken, während die Kinder in der vorderen Hälfte die Bonbons einsammeln dürfen. Dann erfüllt die wunderbare Stimme des Kantors den Raum mit Hoffnung, während auf der Empore die Frauen schon die Tüten mit den Süßigkeiten bereithalten.
Auch unten im Betsaal sitzen Frauen – einige zusammen mit Männern auf einer Bank. Auch für die Hakafot werden Frauen wie Männer gebeten, die Torarollen durch den Raum zu tragen. Es ist eine besondere Ehre an diesem schrecklichen Tag.
Als die Trägerinnen und Träger – sie werden bei jeder Runde ausgewechselt - mit den Rollen an den Betern vorbeischreiten, will jeder den »Baum des Lebens« berühren, einmal, zweimal, siebenmal. »Hoschiana« – »Bitte Ewiger, hilf doch«, singt der Kantor, und die Beter antworten: »Anenu, Anenu beJom Karenu« – »Bitte, Ewiger, antworte uns am Tag, da wir rufen!«.
FAHRRADHELM Von der Empore fliegen Bonbons, Schokolade und Süßigkeitenriegel. Die Kinder – zwei Mädchen sind mit einem Fahrradhelm geschützt – sammeln die Schätze ein und sind fröhlich, so fröhlich wie in jedem Jahr. Ein Träger der Torarollen bekennt hinterher, er selbst sei sogar noch fröhlicher: Diesmal bekam er keine Bonbons auf den Kopf geworfen – oder, noch schlimmer, direkt ins Auge.
Dann beginnt die Toralesung. Fast zum Schluss werden die Kinder auf die Bima gerufen – zum »Kol Hanearim« (»alle Knaben«). Jungen und Mädchen drängen sich unter dem Baldachin und erleben eine Alija aus nächster Nähe. Und wer die Kinder sieht, empfindet ein ruhiges, unspektakuläres Glück.
Mit dem Abschnitt »WeSot Habracha« endet die Toralesung an Simchat Tora. Mit dem Abschnitt »Bereschit« beginnt sie von Neuem. Etwas ist heute zu Ende gegangen. Etwas Neues muss beginnen, in einer Zukunft, die sich die Synagogenbesucher nicht vorstellen können, die ratlos macht.
kiddusch Aber wenigstens sind sie nicht allein. Sie stehen zusammen beim Kiddusch, trinken ein Glas Wein, teilen das Brot und die Sorgen. Ob religiös oder nicht – sie alle haben den »Baum des Lebens« berührt, der ihnen Sicherheit gibt. Und sei es auch nur für heute.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, sagt Nina Peretz zum Schluss des Gottesdienstes. Sie meint nicht nur die Gemeindemitglieder, sondern auch die Polizisten vor dem Tor.