Mundschutz

Fashion statt Fabrik

Das Nähstübchen ist verwaist. Klar, in Zeiten tödlicher Bedrohung durch das Coronavirus muss auf die lieb gewordenen Zusammenkünfte im Handarbeitskreis »Ge­schickte Hände« verzichtet werden.

Doch die Frauen aus der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), die sich sonst im Stuttgarter Gemeindehaus um die Initiatorin Zoya Ures scharen und die schönsten Dinge produzieren, lassen Hände und Nähmaschinen sicher auch in den heimischen vier Wänden nicht ruhen.

Auf sie baut Dagmar Bluthardt nämlich besonders. Denn zu tun gibt es reichlich: »Ehrenamtliche Schneider und Schneiderinnen gesucht«, lautet der Appell, der demnächst im Gemeindeblatt erscheint und mit dem die Leiterin des Sozialdienstes der IRGW eine ausreichende Versorgung mit Masken zur Bedeckung von Mund und Nase erreichen will. Ihre Sorge gilt dabei vor allem den Bewohnern, Migranten, Flüchtlingen, Zuwanderern in zwei Wohnheimen, die von der IRGW in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart betreut werden.

Doch welche Maske darf’s denn sein? Die gewölbte, der Mund-Nasen-Region angepasste Variante oder die der medizinischen Maske nachempfundene Faltvariante, mit Draht oder ohne, mit zusätzlich einsteckbarem Filter oder ohne? Wichtig ist nur, dass sie bei mindestens 60 Grad waschbar ist. Der Fantasie aber sind keine Grenzen gesetzt.

Es können auch Nähmaterialien gespendet werden.

GESELLENBRIEF Dagmar Bluthardt, die seit 21 Jahren für den IRGW-Sozialdienst arbeitet und vor zwei Jahren dessen Leitung übernommen hat, belässt es nicht bei dem Aufruf, sondern legt selbst Hand an. Als in der Besprechung der Sozialdienstleiter aller jüdischen Gemeinden in Deutschland zwangsläufig auch das Thema Masken angesprochen und die Frage gestellt wurde, wie man es schafft, alle Schützlinge damit zu versorgen, war sofort ihr handwerklicher Ehrgeiz geweckt.

Die studierte Sozialpädagogin und promovierte Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin absolvierte vor ihren akademischen Qualifikationen eine Schneiderlehre, »bis zum Gesellenbrief«. Sie weiß also, wovon sie spricht. »Es ist ja abenteuerlich, was an Masken getragen wird«, stellt sie täglich fest. Und empört sich außerdem über die Müllvermehrung durch die Einmal- und Wegwerf-Masken.

Also machte sie sich selbst an die Arbeit und hat sich für eine formangepasste Variante entschieden: »Ich habe einen Schnitt ausgetüftelt, mit dem die Masken perfekt sitzen und am Hals ziemlich dicht abschließen«, erklärt sie. Und genau dieses Schnittmuster heftet Dagmar Bluthardt an ihren Appell gleich mit an, abzurufen unter der IRGW-Webseite (www.irgw.de).

STOFFAUSWAHL Doch welchen Stoff wählen? Gelegenheitsschneider haben vielleicht nicht so viel Vorrat zur Hand. Und hübsch aussehen soll es ja auch noch. Die Frage gilt: Habe ich den richtigen Stoff (Temperatur!) und vor allem das richtige Motiv (Katzen, Blumen, gestreift oder uni, mit Herzchen oder Teufelchen)? Gummis? Nein, dann führt der Weg zum Stoffladen und Kurzwarenhandel. So denken aber leider viele. Auf der Straße stehen die Kunden zwar im Abstand von 1,5 Metern, doch die Stoffe werden ständig angefasst und befühlt.

Dagmar Bluthardt ist gespannt, wer sich als Nähtalent erweisen wird.

Behandschuht und mit spitzen Fingern angelt man/frau sich also zwei Stoffmuster aus dem Angebot (für innen und außen) und betritt den winzigen Laden natürlich mit einer Maske. Die Brille beschlägt. Zu Corona-Zeiten kann das schon einmal eine geschlagene Stunde dauern, um dann zwei Meter Stoff und zehn Meter Gummi (Mindestabnahme) zu erstehen. Zu Hause geht es dann weiter.

»Wir sind gespannt, welche Nähtalente durch diese Aktion zum Vorschein kommen werden«, heißt es aufmunternd weiter in dem Aufruf von Dagmar Bluthardt. Wer nicht zu Nadel und Faden greifen und sich an die Nähmaschine setzen will, kann trotzdem helfen – mit Material, das man für die Masken braucht: »Mit waschbaren Baumwollstoffen, Gummibändern und Fäden als Sachspenden«, sagt Bluthardt. So fänden auch vorsorglich gehortete Stoffreste endlich sinnvolle Verwendung, der Sozialdienst nimmt sie mit großer Freude entgegen (Telefon 0711/22836-383).

»Mal sehen, wie die Resonanz ausfällt«, will Dagmar Bluthardt ihre Erwartungen nicht zu hoch schrauben. Dabei hat sie gerade ein Beispiel von fürsorglicher Solidarität erlebt, das sie als »überwältigend« bezeichnet und das Mut macht: den Einsatz junger Menschen von der Jüdischen Studierendenunion Württemberg (JSUW) für ältere Menschen.

BIKUR CHOLIM Und die Bereitschaft, blitzschnell einzuspringen, wo Not am Mann ist und Hilfe gebraucht wird. Denn das allgemeine Kon-taktverbot schränkt auch Sinn und Zweck des Sozialdienstes, die sozialen Kontakte, ein. Und nicht alles lässt sich telefonisch und digital ergänzen. Zum Beispiel Bikur Cholim, die Krankenbesuchsgruppe. »Die Gruppe kann aufgrund der Corona-Krise derzeit natürlich keine Krankenbesuche mehr machen, denn die meisten Besucher zählen selbst zur Risikogruppe«, erklärt Dagmar Bluthardt.

Wegwerf-Masken produzieren einen riesigen Müllberg.

Die jungen Leute sind spontan eingesprungen und helfen, wo sie können. »Ich bin gespannt, was von dieser wunderbaren Solidarität nach dem Ende von Corona bleibt«, sinniert Bluthardt. Die Mutter von sechs Kindern hatte dereinst Geschäftsführung und Vorstand der IRGW, wie Meinhard M. Tenné und Arno Fern, nicht nur akademisch überzeugt.

Ihre Praxiserfahrung im Kinderheim Neve Hanna in Kirjat Gat und hebräische Sprachkenntnisse bezeugten ihre Verbundenheit mit Israel.
Dass auch ihre Schneiderkünste einmal gefragt sein würden, ahnte sie damals nicht. Doch besondere Zeiten bringen besondere Anforderungen. Das erfährt nun auch Kantor Nathan Goldmann. Der 24-jährige Brite gilt weltweit als der Einzige, der handgearbeitete Kantorenhüte herstellt: wahre Kunstwerke aus schwarzer Seide. Die wird er erst einmal zur Seite legen müssen. Zugunsten von Masken.

MOTIVE Wer sich hinsichtlich der Motive inspirieren lassen möchte, hat dazu im Internet viele Möglichkeiten. Auffallend oder lieber diskret, ein blau-weißer Magen David, das Makkabi-Logo oder der Adler von Brandenburg? Oder so, wie es derzeit das Jüdische Museum Judengasse in Frankfurt seinen Besuchern anbietet.

Dort herrscht Maskenpflicht, und wer keine mitbringt, kann eine hauseigene dunkelblaue Faltvariante mit Gummi erwerben. Oben rechts steht »say gesunt« in lateinischen und hebräischen Buchstaben. Das wünscht sich Dagmar Bluthardt, mit ihrem Aufruf zum Selbstnähen von Masken zu erreichen.

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