Mit ängstlichen und etwas unsicheren Schritten steigt die zwölfjährige Fanny Löwenstein fünf Tage vor dem 1. September 1939 in einen Zug. Sie hat eine beigefarbene Karte in ihrer Hand, auf der ein großes »J« und ihr Name stehen. Ihr einziges Gepäck ist ein kleiner Koffer mit zehn Reichsmark, etwas Unterwäsche, Söckchen und ein Nachthemd. Damit bricht das junge Mädchen in ihr neues Leben auf, das sie zunächst von Köln über die Niederlande bis zur Liverpool Station in London führen wird. Fanny ist Jüdin, ihrer Mutter war es gelungen, die neun Kinder mit den sogenannten Kindertransporten ins Ausland zu bringen – in Sicherheit.
Wenn Fanny Brie-Rosenthal heute über diese Reise spricht, dann wandern ihre Augen von links nach rechts, dann blinzelt sie aufgeregt. Manchmal blickt sie nach unten. Zum Beispiel dann, wenn die 86-Jährige versucht, sich daran zu erinnern, was sie an diesem Tag getragen hatte. Ob Kleid oder Hosen, das mag ihr nicht einfallen. Denn Frau Brie-Rosenthal ist aufgeregt. Gerade hat sie eine Rede gehalten über den Tag, der das Leben aller verändert hat, die am Freitagnachmittag in der Britischen Botschaft in Berlin an einer gedeckten Tafel sitzen.
Hindernisse Andrew Noble, Gesandter der Botschaft, hat elf ehemalige »Berliner Kinder« zu Tee und Kuchen gebeten, um an den 73. Jahrestag des letzten Kindertransports nach Großbritannien zu erinnern. Und alle sind gekommen, die Wunderkinder, wie Noble sie in seiner Ansprache nennt. »Sie haben viele Hindernisse überwunden und Erstaunliches geleistet«, sagt er. Und er habe auch junge Menschen zu diesem klassischen Afternoon Tea eingeladen, um die »Erinnerung wachzuhalten und den Austausch mit Zeitzeugen zu ermöglichen«, der so wichtig sei.
Cecilia und Charlotte sind zwei der »modernen« Kinder, wie Noble sie bezeichnet. Die elf- und neunjährigen Mädchen stehen respektvoll vor Fanny Brie-Rosenthal. Aufmerksam lauschen sie, was ihnen die Dame im dunkelblauen Kostüm und mit rot lackierten Fingernägeln erzählt, und plötzlich müssen beide grinsen. »Löschpapier?«, fragen sie irritiert. Löschpapier. »Damit habe ich das britische th gelernt«, beschreibt Brie-Rosenthal. »Wir mussten es in den Mund nehmen und dann damit die Aussprache üben.« Offenbar hatte diese Methode Erfolg, denn nicht nur das »th« beherrscht Brie-Rosenthal mühelos, auch dieser feine britische Akzent, neben dem jedes andere Englisch verblasst, ist ihr geblieben. Auch so viele Jahre nach ihrer Abreise aus dem Vereinigten Königreich.
Heimat 1947 verließ sie Großbritannien und kehrte nach Deutschland zurück. Allerdings ist die Kölnerin nie wieder so richtig warm geworden mit der alten Heimat. Berlin, wo sie heute lebt, betrachtet sie kritisch. Der Angriff auf einen Rabbiner in Friedenau am vergangenen Dienstag hat sie schockiert. Wie so etwas passieren konnte: Fanny Brie-Rosenthal kann darüber nur den Kopf schütteln.
Als sie nach England kamen, sagt sie, »waren wir alle traumatisiert. Wir hatten schon die Pogromnacht erleben müssen.« Dann der Abschied von den Eltern. Es sollte kein Wiedersehen geben. Doch davon wusste die kleine Fanny 1939 noch nichts. Sie war ängstlich. War sich nicht sicher, ob die britischen Polizisten, die die Kinder empfingen, gute oder schlechte Absichten hatten. »Wir verstanden damals nicht, dass wir bald gerettet werden würden.« Krankenschwestern gaben den Kleinen Milch. »Ich trank sieben Gläser hintereinander.« Und das, obwohl Fanny keine Milch mochte.
Auf den Schock des Abschieds folgte das Einleben, der Kampf mit dem Heimweh und das Erlernen der Sprache. »Das ist das Wichtigste«, sagt Brie-Rosenthal heute. Die Anforderungen der Lehrer, das vornehme Oxford-Englisch zu sprechen, waren hoch. Doch Fanny Brie-Rosenthal gelang es. Und bis heute baut sie in Gesprächen mit ihrem Mann, der als diplomatischer Vertreter der ehemaligen DDR mit ihr gemeinsam in Japan und Griechenland war, englische Wörter ein.
Denkmal Eine große Hoffnung hat Brie-Rosenthal, die sich für diesen besonderen Tag die Schleife ihres Bundeverdienstkreuzes angesteckt hat. Auch in anderen Städten sollte es Denkmäler für die Kindertransporte geben. So wie die Bronzeskulptur des Künstlers Frank Meisler vor dem Bahnhof Friedrichstraße, vor dem sich die ehemaligen »Kinder« zum Gedenken versammeln. Das Kunstwerk, das vom Verein Kinderdenkmal und dessen Vorsitzende Lisa Bechner angeregt wurde, ist heute selten ohne Blumen zu sehen. Menschen aus aller Welt gehen täglich daran vorbei.
»Dafür bin ich Lisa Bechner sehr dankbar«, sagt Brie-Rosenthal. Aber die größte Dankbarkeit gilt den Briten. Die, das weiß die 86-Jährige, wird sie nie vergessen.