Porträt der Woche

Familie als Sujet

Elinor Sahm ist Israelin, Künstlerin, Mutter und lebt jetzt in Berlin

von Alicia Rust  23.11.2024 17:53 Uhr

Zeichnet und macht multimediale Installationen: Elinor Sahm (38) Foto: Stephan Pramme

Elinor Sahm ist Israelin, Künstlerin, Mutter und lebt jetzt in Berlin

von Alicia Rust  23.11.2024 17:53 Uhr

Als ich 2001 zum ersten Mal mit meinen Eltern nach Berlin kam, wo meine Mutter eine Ausstellung in der Predigtkirche des Berliner Doms hatte, fühlte es sich an wie ein Déjà-vu. Ich dachte: Das habe ich alles schon einmal erlebt, so vertraut kam mir die Umgebung vor. 2005 war ich zur Beerdigung meines Großvaters Ulrich Sahm in der Hauptstadt. Er war Diplomat, nach ihm ist mein Vater benannt. In den Zeiten der Bundesrepublik war mein Opa einer der führenden Diplomaten im Auswärtigen Dienst, und er war als außenpolitischer Berater eng mit Willy Brandt verbunden. Für mich war er einfach nur mein geliebter »Saba«, mein Opa.

Eine Weile bin ich zwischen Tel Aviv und Berlin gependelt. Für eine israelische Künstlerin – ich wurde 1986 in Jerusalem geboren – ist Berlin ein Ort der Inspiration, alles scheint möglich. Im Februar 2023 bin ich mit meinem Mann von Tel Aviv nach Berlin gezogen. Zuvor hatten wir elf Jahre zusammen in Tel Aviv gelebt, 2013 hatten wir uns bei einem Musikfestival in Jerusalem kennengelernt, er war für die Technik zuständig und ich für die Produktion. Mein Mann ist ebenfalls Israeli, seine Großeltern sind Holocaust-Überlebende. Meine Mutter, die zuvor zwischen Israel und Basel gependelt ist, pendelte seither zwischen Basel und Berlin, um näher bei mir zu sein. Dann wurde sie krank.

Mit zwei Katzen und zwei Hunden unter einem Dach

Vor 18 Monaten wurde unser Sohn Theo in Berlin geboren. Jetzt leben wir mit zwei Katzen und zwei Hunden unter einem Dach, und das macht mich glücklich. Natürlich wandern unsere Gedanken immer wieder zu unseren Freunden und Verwandten in Israel, seit dem Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 hat sich alles verändert. Wir waren da, als es passierte, am 4. Oktober waren wir mit unserem Baby angereist, um unseren Sohn der Familie vorzustellen. Bei dem Massaker wurden Freunde und Bekannte von uns getötet. Einige Menschen aus unserem Umfeld befinden sich immer noch in Gefangenschaft. Die Gedanken daran sind unerträglich.

Berlin liegt mir im Blut, wie man so sagt. Mein Urgroßvater Heinrich Sahm war ab 1931 Oberbürgermeister von Berlin, also der letzte demokratisch gewählte Bürgermeister, bevor die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Nachdem er 1935 seines Amtes enthoben wurde, lebte er bis zu seinem Tod als Botschafter in Norwegen. Um ihn ranken sich zahlreiche Mythen in meiner Familie. Es gibt noch viele Fragen, die ich in Bezug auf seine Vergangenheit – insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus – aufarbeiten möchte. Das erste Mal sah ich ein Foto von ihm in einer Ausstellung der Topographie des Terrors. Was mich überraschte, war seine Größe. Mit über zwei Metern war er ein sehr großer Mann, besonders zur damaligen Zeit.

Mein Vater Ulrich W. Sahm, geboren 1950, wuchs als Diplomatensohn in Paris, London, Moskau und Ankara auf. Während seiner Schulzeit in Paris hatte er viele jüdische Freunde, Hebräisch lernte er auf dem Pausenhof. Damit war sein Interesse am Judentum geweckt. Mit Anfang 20 kam er erstmals nach Israel, dort konvertierte er zum Judentum und wurde schließlich zu einem gefragten Korrespondenten für deutsche Medien.

Arbeiten rund um die Uhr

Von zu Hause aus arbeitete er quasi rund um die Uhr: fürs Radio, fürs Fernsehen, er schrieb Bücher und arbeitete für verschiedene Zeitungen. Daher ist mir auch die Jüdische Allgemeine sehr vertraut, mit ihr bin ich aufgewachsen. Anfang des Jahres ist er im Alter von 74 Jahren in Bremen verstorben. Seit meiner Jugend hatte sich das Verhältnis zu ihm verschlechtert, was an einer Vielzahl von Unstimmigkeiten lag.

Meine Mutter Varda Polak-Sahm entstammt einer alten jüdischen Familie. Ich bin die neunte Generation, die in Jerusalem geboren wurde. Mein Urgroßvater kam aus Hebron, ein Teil unserer Familie kommt aus Jerusalem, bei anderen Mitgliedern handelt es sich um Juden, die aus der Türkei und Ägypten nach Israel geflohen waren. Die Ersten wurden während der spanischen Inquisition vertrieben.

Mein Urgroßvater war ab 1931 Berlins letzter demokratisch gewählter Oberbürgermeister.

Meine Großeltern, meine Omi Behira Clara Allayoff und mein Opa Itzhak sind sefardische Juden. Wenn ich an meine Kindheit in meiner jüdischen Familie denke, empfinde ich Glück und Wärme. Ich denke daran, wie fröhlich es zuging, wenn zum Beispiel im Haus meiner Großeltern am Schabbat gemeinsam gesungen wurde. Die Familie war sehr musikalisch. Als Kind habe ich eine Zeit lang Saxofon gespielt, doch ich war nicht mit dem Talent der anderen Familienmitglieder gesegnet, meine Bestimmung war die Kunst.

Meine Mutter Varda Polak-Sahm arbeitete als Fotografin und schrieb Bücher. Sie war – wie ich – eine Frohnatur, und bis zu ihrem Tod hatten wir ein sehr inniges Verhältnis. Sie starb nur zweieinhalb Wochen, nachdem mein Sohn Theo geboren wurde. Die größte Fähigkeit, für die ich sie bewundere, war ihre Gabe, nicht zu verbittern und das Leben allen Widrigkeiten zum Trotz immer noch zu umarmen. Sie war eine unerschütterliche Optimistin und hat viel gelacht. Mit dieser Einstellung bin ich aufgewachsen. Ihre Energie und Liebe tragen mich bis heute.

Ich hatte einen 13 Jahre älteren Bruder, den ich sehr liebte

Ich hatte einen 13 Jahre älteren Bruder, den ich sehr liebte. Rafi war Trommler, und er lebte bereits als Musiker in New York, als er zu meiner Batmizwa nach Jerusalem zurückkam. Drei Wochen später nahm er sich das Leben. Er hatte sich nur unweit des Hauses meiner Großeltern erhängt, diese Tragödie geschah 1999. Jahrelang hatte ich das Gefühl, Rafi immer noch an meiner Seite zu haben, seit der Geburt meines Sohnes Theo hat sich dieser Eindruck verflüchtigt. Somit bin ich das einzige gemeinsame Kind meiner Eltern, die beide zuvor schon einmal mit anderen Partnern verheiratet waren. Ich habe noch einige Halbgeschwister, die in Israel leben.

Das Thema Familie ist ein zentraler Aspekt meiner künstlerischen Arbeit. Ich zeichne und mache multimediale Installationen, nähere mich künstlerisch meinen Vorfahren an, unter denen sich sogar deutsche Adelige befinden, darunter auch Baron von Münchhausen, der mit meiner Urgroßmutter verwandt war. Ein Graf von Schwerin befindet sich ebenso in einer Linie. Sicher ist diese Auseinandersetzung ein Versuch, etwas derart Komplexes wie Familienbande in eine Form zu bringen. Die Kunst ist für mich ein Mittel der spirituellen Weiterentwicklung.

Ich hatte eine schöne Kindheit, wir lebten in einem großen Haus in Jerusalem, gefüllt mit Farben, Exponaten aus allen möglichen Kulturen, mit vielen Büchern und Spiritualität. Da mein Vater – der in Israel ziemlich bekannt war – einen deutschen Akzent hatte, wenn er Hebräisch sprach, hatte ich ebenfalls einen deutschen Akzent, bis ich ungefähr acht Jahre alt war. In der Schule wurde ich deshalb als »Nazi« gehänselt, das brachte meine Mutter auf, und sie klärte das umgehend vor Ort. Ich weiß noch, wie sie sagte, dass schließlich nicht alle Deutschen Nazis waren. Der Junge, der mich als Nazi bezeichnet hatte, war Franzose.

Nach der Grundschule ging ich auf das Rechavia-Gymnasium im Zentrum Jerusalems. Danach leistete ich zwei Jahre Armeedienst, anschließend besuchte ich die Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem, um Kunst zu studieren, rückblickend eine gute Entscheidung. Ich wollte schon immer Künstlerin werden und bin dankbar, diesen Weg eingeschlagen zu haben.

Direkt nach dem Master-Abschluss nach Berlin

Direkt nach meinem Master-Abschluss, den ich in Tel Aviv gemacht habe, sind wir nach Berlin gekommen. Zuvor, 2012, hatte ich bereits ein Semester im Studentenaustausch an der UdK studiert. Seitdem hat mich die Stadt nicht mehr losgelassen.

Bei allem, was mich in den letzten Jahren belastet hat, denke ich mit Demut daran, wie gut es gewesen ist, dass meine Mutter so kurz vor ihrem Tod noch einmal ihren zwei Tage alten Enkel in den Armen halten konnte. Was für ein Geschenk! Nicht auszudenken, wenn sie ihn so knapp verpasst hätte. Für mich sind der Tod und das Leben miteinander verbunden, beides sind Teile des gleichen Kreislaufs. Diesen Ansatz verfolge ich auch in der Kunst. Hier ist die Schuld, dort die Vergebung.

In Berlin ist ein Teil von mir zu Hause, während meine Seele weiter in Israel bleibt. Vielleicht ist das Zuhause ja auch ein Ort, wo man den Kontext des Humors versteht. Wenn man so viele Menschen auf einmal verliert, bekommt man eine andere Perspektive auf das Leben. Alles, was ich mache, ist mir bewusst. Der Umzug nach Europa und meine Spurensuche in der Vergangenheit sind auch mit einem Versprechen an meinen Sohn verbunden: Er soll einmal frei entscheiden können, in welcher Welt er leben möchte.

Aufgezeichnet von Alicia Rust

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