Herr Schuster, im August wird der Bundestag einen Haushaltsentwurf für das kommende Jahr ausarbeiten. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) macht nun in einer Pressemitteilung darauf aufmerksam, dass der Etat für die Wohlfahrtsverbände um 25 Prozent gekürzt werden könnte. Das hört sich dramatisch an.
Ja, das ist es definitiv. Die Kürzungen betreffen uns insbesondere in den Bereichen Integration, Engagement-Förderung und digitale Transformation. Es wird unverhältnismäßig stark im sozialen Bereich gestrichen, wovon eben auch die freie Wohlfahrtspflege drastisch betroffen ist. Dieses Vorgehen widerspricht auch dem Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung. Dort wurde die freie Wohlfahrtspflege, meines Wissens erstmalig, explizit als Partner aufgeführt. Es ist eine fahrlässige Haushaltspolitik, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet.
Wie wird sich dies in der Praxis auswirken?
Das trifft nicht nur die Zentralwohlfahrtsstelle, sondern auch die weiteren fünf Spitzenverbände sehr, sehr stark. Und das in einer Situation, in der wir alle Anstrengungen in Gang setzen müssen, damit Integration gelingt und vulnerable Zielgruppen nicht weiter digital abgehängt werden.
Welche Einschnitte können im Bereich Engagement anstehen?
Für den Bundesfreiwilligendienst und die Jugendfreiwilligendienste sind Kürzungen von mehr als 200 Millionen vorgesehen. Dies führt zwangsläufig zu einem Abbau zivilgesellschaftlichen Engagements. Deshalb halte ich es für aberwitzig, dass ausgerechnet jetzt die SPD mit der Idee zu einem sozialen Pflichtjahr um die Ecke kommt.
Was finden Sie daran überraschend?
Bei diesem Thema gibt es sicherlich gute Pro- und Kontraargumente. Aber vor dem Hintergrund, dass im Bundeshaushalt 23 Prozent weniger für die Freiwilligendienste vorgesehen sind, passt diese Forderung überhaupt nicht ins Bild.
Stimmt es, dass von den Kürzungen jede vierte Stelle betroffen wäre?
So leicht lässt sich das nicht herunterbrechen für uns. Jedes Förderprogramm unterliegt anderen Verteilungskriterien. Als Träger im Bundesprogramm der Migrationsberatung beispielsweise betreiben wir einige wenige Beratungsstellen selbst, leiten andererseits aber auch Mittel an unsere Mitgliedsgemeinden weiter, die dann Migrationsberatung leisten. In einer Zeit zu kürzen, in der wir mit der höchsten Zahl an neu Zugewanderten seit den Fluchtbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sind, wäre wirklich paradox. Es würde uns sehr treffen.
Welche Bereiche sind noch betroffen?
Auch unsere Vorhaben im Bereich der Digitalisierung sind von den Kürzungen betroffen. Das beinhaltet wiederum auch Weiterleitungen an unsere Mitgliedsverbände, diese auf dem Weg der digitalen Transformation zu begleiten, die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen, Seniorinnen und Senioren sowie Unterstützungsbedürftigen an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen und beim Aufbau der Infrastruktur durch die Vermittlung digitaler Kompetenzen zu unterstützen.
Wie sieht es bei den psychosozialen Zentren aus?
Wir selbst betreiben zwar keine solchen Zentren, tragen aber Projekte der psychosozialen Betreuung von Geflüchteten. Auch hier ist nach aktuellem Stand mit einem reduzierten Budget zu rechnen.
Haben Sie Verständnis für die angedachten Kürzungen?
Die ZWST erkennt die haushaltspolitischen Einschnitte vor dem Hintergrund der volkswirtschaftlichen Herausforderungen und der Unterstützung für die Ukraine an. Dies rechtfertigt nicht die vorgesehenen, überdurchschnittlichen Kürzungen bis hin zu kompletten Programmstreichungen für die freie Wohlfahrtspflege!
Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?
Sie lässt am Kurzzeitgedächtnis der politischen Verantwortlichen zweifeln. Ohne die Freie Wohlfahrtspflege hätten die jüngsten Krisen wie Auswirkungen der Pandemie, der Hochwasserkatastrophe, Flucht infolge des Ukraine-Krieges in dieser Form nicht bewältigt werden können.
Dem Staat allein wäre das auf diese Weise nicht gelungen?
Wir sehen uns in gefühlt immer kürzeren Abständen mit multiplen Krisen konfrontiert. Diese zu bewältigen, gelingt nur gemeinsam. Die freie Wohlfahrtspflege als tragende Säule des Sozialstaats versteht sich hierbei als wichtiger Partner. Würde der Haushaltsentwurf 2024 in der vorliegenden Form umgesetzt werden, wären resiliente und krisensichere Strukturen der Freien Wohlfahrtspflege aufgrund der vorgesehenen Kürzungen von 25 Prozent ihres Gesamtbudgets nicht mehr gegeben.
Was tun Sie, damit es nicht so weit kommt?
Die ZWST appelliert an der Seite ihrer Kolleginnen und Kollegen aus den fünf Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege: Haushaltsansätze im parlamentarischen Verfahren müssen angepasst werden, damit die Freie Wohlfahrtspflege auch weiterhin ihrer Aufgabe nachkommen kann. Der Sozialstaat und der gesellschaftliche Zusammenhalt dürfen nicht gefährdet werden. In den kommenden Wochen werden wir daher zahlreiche Gespräche mit allen demokratischen Fraktionen im Bundestag suchen.
Mit dem Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) sprach Christine Schmitt.