Porträt der Woche

Exzesse wären vermeidbar

Joachim Goldberg berät Banker und Anleger an der Frankfurter Börse

von Annette Wollenhaupt  18.02.2010 00:00 Uhr

Liefert regelmäßig Finanzmarktanalysen: Joachim Goldberg im firmeneigenen Fernsehstudio Foto: Judith König

Joachim Goldberg berät Banker und Anleger an der Frankfurter Börse

von Annette Wollenhaupt  18.02.2010 00:00 Uhr

Spätestens um viertel vor sieben fängt mein Arbeitstag an. Manchmal auch schon um sechs. Heute ist so ein Tag. Um fünf bin ich aufgestanden – nach einer wie immer viel zu kurzen Nacht. Dabei bin ich gar kein Frühaufsteher. Seit Jahrzehnten lebe ich, was das betrifft, gegen mein Naturell. Als Geschäftsführer der cognitrend GmbH muss ich schon ganz früh die amerikanischen und fernöstlichen Finanzmärkte auswerten, denn bereits um 7.30 Uhr erwartet einer unserer größten Kunden eine druckreife Analyse.

1979 kam ich als gelernter Bankkaufmann nach Frankfurt. Anfangs habe ich mich als Devisenhändler der Deutschen Bank der sogenannten Technischen Analyse gewidmet. Ich habe aus Kursbildern, den Charts, versucht, geometrische Muster herauszulesen und auf deren Grundlage Zukunftsvoraussagen getroffen. Schon damals war ich nicht der typische Händler, permanent unter Strom, stets das Telefon am Ohr. Ich wollte eigentlich immer nur eines wissen: Wie funktionieren Märkte, was bewegt sie? Ich habe dann im Laufe der Jahre festgestellt, dass sie oft nicht nach ökonomischen Prinzipien arbeiten, sondern häufig so, wie es eben in keinem Lehrbuch steht. Mitte der 90er-Jahre habe ich deshalb den Ansatz der Technischen Analyse verworfen und wechselte zur Behavioral Finance, einer verhaltensorientierten Finanzmarktanalyse, die versucht, eine Brücke zwischen der Ökonomie und Psychologie zu schlagen.

behavioral Finance Mein Schlüsselerlebnis war Folgendes: Ich las die Arbeit einer Studentin über die beiden Urväter der Behavioral Finance, Daniel Kahnemann, der als erster Psychologe den Nobelpreis für Ökonomie erhalten hatte, und Amos Tversky. Beide haben festgestellt, dass Menschen mit Gewinnen und Verlusten unterschiedlich umgehen. Diese Erkenntnis ist im Grunde der Kern der Behavioral Finance. Das Interessante daran: Verluste werden zwei- bis zweieinhalbmal so stark bewertet wie Gewinne. Die werden deshalb viel zu früh mitgenommen, und die Verluste lässt man einfach laufen. Viele Anleger wagen das Risiko nicht. Die Menschen unterschätzen generell ihre Leidensfähigkeit bei Verlusten.

Das Menschenbild der Behavioral Finance ist ein gänzlich anderes als das des Homo oeconomicus, das bis dahin als Grundlage für alle wichtigen Finanzmarkttheorien galt. Mit dem Homo oeconomicus hatte man im Grunde einen Kunstmenschen mit kaltem Herzen geschaffen. Ei- nen absoluten Nutzen-Maximierer im ausschließlich ökonomischen Sinn. Die Praxis sieht aber anders aus.

Ich mache viele Veranstaltungen mit Privatanlegern und Profis. Ich spiele mit ihnen dann immer gerne ein Ultimatum-Spiel. Ich biete 10.000 Euro. Einzige Bedin- gung: Der Spieler muss seinem Nachbarn etwas abgeben. Der Nachbar muss wiederum mit dem ihm zugebilligten Anteil einverstanden sein. Wenn nicht, gehen beide leer aus. Meistens schlägt der Spieler eine Fifty-Fifty-Lösung vor. Das zeigt, dass die Menschen in Wirklichkeit nicht so kalt sind, wie es der Homo oeconomicus wäre. Es gibt für sie ganz offensichtlich neben dem materiellen Nutzen noch einen anderen: das zwischenmenschliche Wohlbefinden, Fairness.

Herkunft Mein Beruf nimmt mich sehr in Anspruch, doch ist da immer dieses große, zweite Thema meines Lebens, das mich privat sehr beschäftigt. Mein Vater war Jude. Mein Großvater wurde 1938 ins KZ Sachsenhausen gebracht und dort ermordet, meine Großmutter starb auf dem Transport nach Auschwitz. Mein Vater hat überlebt: Er gelangte als Zwölfjähriger nach Palästina und kam in einem katholischen Kloster unter. Warum gerade dort, weiß ich nicht. Ich habe mit ihm nie über diese Zeit gesprochen, er schwieg darüber.

1952 kehrte er nach Deutschland zurück. Dass er in Israel zum Christen wurde, war nicht unproblematisch, er galt den anderen vermutlich als Verräter. In einem Dokument, das wir nach seinem Tod fanden, schrieb er, dass er letztlich gezwungen gewesen sei, Israel wieder zu verlassen. Erschwerend kam wohl hinzu, dass er den Militärdienst verweigerte. Meine katholische Mutter lernte er in Deutschland kennen, ich wuchs in Freiburg auf. Später wurde mein Vater Professor für Judaistik in Frankfurt, er hat dieses Fach in Deutschland neu mitbegründet. Er war innerlich zerrissen: Offiziell galt er als Katholik, im Herzen aber blieb er dem Judentum stark verbunden.

zurückweisung Für mich ist das ein schwieriges Kapitel. Ich selbst bin aus der katholischen Kirche ausgetreten, die drei Kinder, die ich mit meiner zweiten Frau Barbara habe, sind nicht getauft. Ich fühle mich, wie mein Vater, dem Judentum nahe und würde gern auch offiziell dazugehören. Doch dafür müsste ich übertreten, Hebräisch lernen, regelmäßig in die Synagoge gehen. Ich bin aber schon früher kein Kirchgänger gewesen und würde ganz sicher auch nicht an jedem Schabbat die Synagoge besuchen. Dass ich all diese Hürden nehmen soll, obwohl mein Vater doch Jude war, empfinde ich als massive Zurückweisung.

Mit diesem Problem stehe ich nicht allein da. Vielen der zweiten Generation geht es so. Auf ihren Familien lastete ein großes Schweigen, und wenn sie ihr Jüdischsein erforschen wollen, stößt man sie zurück, sofern ihnen die jüdische Mutter fehlt.

gemeinde Ab und zu besuche ich Veranstaltungen des Egalitären Minjans. Mit der Rabbinerin und einem Wirtschaftsphilosophen habe ich eine interessante Reihe zum Thema »Juden & Geld« gestartet. Eine unserer zentralen Fragen lautet: »Wäre die Finanzmarktkrise mit der Befolgung halachischer Gesetze zu verhindern gewesen?« Es gibt ja zum Beispiel das Zinsverbot oder auch eine Regel, die starke Wertveränderungen von Gütern verhindern soll. Ich denke, dass sich in der Tat einzelne Exzesse an den globalen Märkten nicht ereignet hätten. Zur Zeit bereite ich mich auf unseren Abschluss-Schiur am 20. Februar vor. Das Thema lautet: »Die jüdische Perspektive auf die Finanzkrise«. Die Quellenarbeit ist aufwendig, viele Fragen sind für mich noch offen.

Etwa 50 Tage im Jahr bin ich als Missionar in eigener Sache unterwegs. Meistens spreche ich in den Abendstunden auf Einladung von Kreditinstituten, Fondsgesellschaften oder Vermögensverwaltern. Ich versuche dann immer, die Erkenntnisse der Finanzmarktpsychologie anhand von Alltagsbeispielen zu erklären, mein Publikum einzubeziehen. Wenn ich auf der Bühne stehe, habe ich das Gefühl, zu Hause zu sein. Ich liebe das.

Der eigentlich anstrengende Teil des Abends beginnt danach. Wenn die Häppchen gereicht werden. Ein oder zwei Stunden stehe ich dann noch zu Gesprächen zur Verfügung. Das kann aufreibend sein, vor allem, wenn es um die Einzelschicksale von Anlegern geht, die mich mitunter sehr bewegen. Viele trauen sich im Plenum meist nicht, darüber zu reden und kommen deshalb erst hinterher zu mir. Um 23 Uhr fahre ich zurück ins Hotel. Dann kommt die Einsamkeit. Ich setze mich an die Hotelbar, manchmal trinke ich einen Gin.

Wenn ich ausspannen möchte von allem, dann höre ich Barockmusik und genieße dazu einen alten französischen Bordeaux. Ich mag Händels Opern, bin ein Salieri-Fan. Ich hätte, glaube ich, ganz gerne zu Zeiten des Barock gelebt. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke: Den Juden ging es damals gar nicht gut.

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