Von einem »besonderen jüdischen Bücherschicksal« hat der deutsch-jüdische Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929) einmal geschrieben. Dabei hat er sich gewiss nicht träumen lassen, dass so etwas auch seiner eigenen, 3000 Bände umfassenden Bibliothek widerfahren würde. Sie befindet sich nämlich seit über 80 Jahren in der tunesischen Nationalbibliothek.
Wie sie – nach einer Irrfahrt – dorthin kam, erforschte Julia Schneidawind im Rahmen ihrer Dissertation über Schicksal und Überlieferungsgeschichte von Privatbibliotheken deutsch-jüdischer Intellektueller des 20. Jahrhunderts wie Lion Feuchtwanger, Franz Rosenzweig und Karl Wolfskehl. Im Herbst wird dazu im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht ein Buch erscheinen.
sommerpause Ein Beispiel, das belegt, dass es auch ein »Exil der Bücher« gibt, wurde in einer Kooperationsveranstaltung des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur und des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde kurz vor der Sommerpause im Historicum der Ludwig-Maximilians-Universität vorgestellt.
Dazu hatte der Historiker Michael Brenner nicht nur seine vormalige Studentin und seit 2022 wissenschaftliche Assistentin Julia Schneidawind gebeten, sondern auch den 1953 in Deggendorf geborenen und seit 1993 in Paris lebenden Spezialisten für Philosophie- und Ideengeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Norbert Waszek. An Dramatik steht dem Schicksal von Franz Rosenzweig das seiner Bibliothek nicht nach.
Rosenzweig, der 1905 mit einem Medizinstudium unter anderem in München begann, wechselte 1907 in Freiburg zu Geschichte und Philosophie und promovierte 1912 mit einer Arbeit über Hegel. Sogar während seines Kriegsdienstes las und schrieb er. Als er 1920 die jüdische Religionslehrerin Edith Hahn aus Berlin heiratete, bestand seine Mitgift schon aus jeder Menge Bücher.
schicksalsjahr Das Jahr 1922 wurde zu einem Schicksalsjahr für Rosenzweig, er bekam die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose und begriff, dass er seinen kurz danach geborenen Sohn Rafael nicht aufwachsen sehen würde. Er tröstete sich damit, dass seine Bibliothek ein Vermächtnis für seinen Sohn werden würde.
Die Witwe Edith nahm diesen Auftrag ernst. Nicht bereit, Deutschland zu verlassen, richtete sie 1935 in ihrer neuen Wohnung in Frankfurt noch ein Bibliothekszimmer ein. Als Sohn Rafael nach Palästina emigrierte, beauftragte Edith im August 1939 eine Spedition mit der Verschiffung der Bibliothek und eines Bechstein-Flügels über Triest nach Haifa. Schweren Herzens traf sie selbst am 11. September in Haifa ein.
Die Bücher aber waren in Antwerpen gelandet, sechs Monate später auf ein belgisches Schiff verladen worden und Richtung Mittelmeer unterwegs. Am 29. Mai 1940 beschlagnahmten es die Franzosen und lotsten es nach Tunis. Bereits 1946 zeichnete sich ab, dass Edith Rosenzweig-Scheinmann (1895–1979) die Bibliothek ihres Mannes nicht würde auslösen können.
nationalbibliothek Sie kehrte nach Deutschland zurück, der 1956 aus französischer Herrschaft entlassene Staat Tunesien hatte kein Interesse, die Bücher ausgerechnet nach Israel zu überstellen. Und so stehen sie noch heute als einigermaßen geschlossener Bestand, stockfleckig, in der tunesischen Nationalbibliothek.
Norbert Waszek veröffentlichte 2017 einen Katalog über Rosenzweigs Bibliothek. Auch Julia Schneidawind hatte Gelegenheit, den Bestand zu besichtigen sowie Fotos anzufertigen, und stellte fest, dass es Einlagen und Anmerkungen in den Büchern gibt, die für die Forschung wertvoll wären, auch Rosenzweigs persönliches Netzwerk ließe sich rekonstruieren. Tunesien hat heute andere Sorgen. Übrigens hätte der Sohn Rafael mit der Bibliothek seines Vaters nichts anzufangen gewusst. Er interessierte sich für Landwirtschaft und Agrarökonomie.