Die Feier findet im großen Hubert-Burda-Saal der Israelitischen Kultusgemeinde München statt. Ein Statement. Die liberale jüdische Gemeinde Beth Shalom dankt für die »kostenlose Überlassung« und feiert voller Selbstbewusstsein ihr 20-jähriges Bestehen und damit die »Rückkehr des progressiven Judentums« in die Stadt. Fast 300 Menschen sind gekommen und feiern an festlich gedeckten Tischen mit.
Jan Mühlstein, Vorsitzender von Beth Shalom, ist nicht nur in bester Festtagslaune, er ist »richtig gut drauf«, locker und stolz gleichermaßen, selbstsicher in dem Gefühl, längst angekommen zu sein, mitten im jüdischen Leben von München. Sein Befinden? »Sehr zufrieden: Wir stehen einfach gut da mit unseren mehr als 400 Mitgliedern aus 15 Ursprungsländern, und wir wachsen weiter. Wir haben mit Tom Kucera einen wunderbaren Rabbiner und mit Nikola David einen ebenso wunderbaren eigenen Kantor.«
Wunschtraum Wunschlos glücklich? »Eine eigene Synagoge, das ist unser Traum«, sagt Mühlstein. »An der professionellen Struktur der Gemeinde ist noch zu arbeiten, und die Finanzierung der Sicherheit, da muss sich die bayerische Staatsregierung bewegen.«
Feiern heißt immer auch erinnern: 1992 zog die US-Army aus München ab, und damit war dann auch erst einmal Schluss mit den nichtorthodoxen jüdischen Gottesdiensten. Georg Stein, der zu der Zeit für Radio Free Europe arbeitete, und seine Frau Susan machten sich damals auf die Suche nach anderen englischsprachigen jüdischen Eltern, und so kam es zu einer Sunday School mit Religionsunterricht für Kinder. Die Gruppe wächst zusammen, schmiedet Pläne, und am 17. März 1995 war es dann so weit. Der Verein »Liberale Jüdische Gemeinde München Beth Shalom« wird gegründet.
Susan und Georg Stein gilt es also besonders zu ehren an diesem Jubeltag, herzlich zu begrüßen und in die Runde aufzunehmen. Längst wieder nach Amerika zurückgekehrt, haben sie es sich nicht nehmen lassen, zur Feier des Tages aus New York anzureisen. Was er gedacht habe, als er in New York erfuhr, dass Beth Shalom an eine eigene Synagoge denke und deshalb im Gespräch mit dem Stararchitekten Libeskind stehe, wird Georg Stein später auf dem Podium gefragt. Er stimmt ein Gebet an. Guckt in die Runde: Das habe er gedacht.
Neue Maßstäbe Die Gemeinde stabilisiert sich also über die Jahre, ist so etwas wie der Motor der jüdisch-liberalen Bewegung in Deutschland nach dem Krieg, worauf auch Irith Michelsohn, Geschäftsführerin der Union progressiver Juden in Deutschland, in ihrer Rede hinweist: »Beth Shalom hat Maßstäbe gesetzt.« 1997 wird Walter Homolka als Rabbiner in die Gemeinde Beth Shalom eingeführt.
Auch er ein Festredner, der sich noch gut gelaunt daran erinnert, in welcher Stimmung man in den Anfangsjahren beäugt habe, was da im Entstehen war. Einer habe sich einmal getraut, in den Gottesdienst »der Liberalen« zu gehen, erzählt er, sei heimgekommen und habe den Neugierigen berichtet, furchtbar sei es gewesen, der Gottesdienst schrecklich lang, man habe kein Wort mit seinem Nachbarn reden dürfen, und von Hula-Hoop-Mädchen sei auch keine Spur gewesen.
Heute sitzen sie nebeneinander zum Feiern, Gemeindemitglieder der IKG und die von Beth Shalom. Manche von ihnen sind sowohl hier als auch dort zu Hause – »um die zehn Prozent unserer Leute«, schätzt Gemeindevorsitzender Jan Mühlstein. Charlotte Knobloch, Präsidentin der IKG, gratuliert in der Festschrift »von ganzem Herzen«, Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, schreibt, dass sich »das Judentum in seinen verschiedenen Ausrichtungen in Deutschland und Bayern etabliert« habe, und schickt ein »Mazal Tov«. Neben Worten gibt es Musik.
Gratulanten Beth Shalom hat einen eigenen Chor. Natürlich. Der füllt die ganze Bühne. Frauen und Männer gemischt. Auch das selbstverständlich. Der Chor stimmt in den Abend ein in vollem klaren Ton. Auch vom Kantor gibt es stimmliche Kostproben.
Um diesen Kantor beneidet Abi Pitum aus dem Vorstand der IKG Beth Shalom ein wenig. »Aber es gibt noch einen zweiten sehr guten«, sagt er und schmunzelt. Pitum gratuliert im Namen der IKG-Präsidentin Knobloch und des gesamten Vorstands, weist darauf hin, dass es mehr gebe, was die beiden Gemeinden eine, als sie trenne. Beide trügen dazu bei, die Jüdischkeit in der Stadt zu pflegen.
Leo Hepner, Präsident emeritus der European Union for Progessive Judaism, war über die Jahre immer nahe dran an Beth Shalom, an den Problemen und vor allem an deren Bewältigungen, was er fasziniert beobachtet habe und ihn heute mit »außerordentlichem Stolz« gratulieren lasse.
Sicherheit Hans-Georg Küppers, Kulturreferent von München, bestätigt Beth Shalom, dass »wir Sie brauchen«, und Beate Merk, Mitglied des bayerischen Landtags und Staatsministerin gratuliert im Namen von Ministerpräsident Horst Seehofer und sagt an Mühlstein gewandt: »Sie sollen sich in Bayern sicher fühlen, dafür werden wir alles tun.«
Mühlstein notiert’s. Die nächsten Verhandlungen mit der Staatsregierung kommen bestimmt. In einer Gesprächsrunde klingt alles noch einmal an, Synagogenträume, Erinnerungen, Konflikte und ein Lob an all die, die als mächtiges Häuflein immer wieder Großes angehen und Visionen wahr werden lassen.
Rabbiner Tom Kucera sieht voller Stolz und Dankbarkeit auf seine Gemeinde und seine Gemeinde voller Stolz und Dankbarkeit auf ihn. Das Hauptmerkmal der Spiritualität sei es, im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu erblicken, ein Satz, der seine Wirkung zurückgewinnt, wenn der Alltag wieder eingekehrt ist.