Sie war eine kleine Frau mit einer großen Stimme: Esther Bejarano, Musikerin und Überlebende der Schoah. Als Gefangene in Auschwitz spielte sie Akkordeon im »Mädchenorchester«. Nach dem NS-Mord an rund sechs Millionen europäischen Juden ging Bejarano in Schulen, um Jugendlichen von ihren Erlebnissen zu erzählen. Vor 100 Jahren, am 15. Dezember 1924, wurde sie geboren. Erst vor drei Jahren starb Bejarano im hohen Alter von 96 Jahren in Hamburg.
Sie sagte einmal, es sei eines ihrer Lieblingslieder: »Mir lebn ejbig!« - »Wir leben trotzdem! Wir sind da«. Auch Bejarano lebte trotzdem: Sie überstand Nazi-Terror, Todesangst und Auschwitz. Und sie war da, als Zeitzeugin gegen Antisemitismus und Rassismus, als Künstlerin und Friedensaktivistin.
Was sie den Menschen wohl heute sagen würde, angesichts von massiv gestiegenem Antisemitismus in Europa nach dem 7. Oktober 2023? Dieser Tag, an dem Terroristen Israel überfielen, mordeten, Geiseln nahmen und Familien auseinanderrissen, wird von vielen als der tödlichste Tag für Jüdinnen und Juden seit dem Ende der Schoa erinnert.
Nicht unumstritten war ihr Engagement für die linksextremistische und vom Verfassungsschutz beobachtete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die sie sogar als Kandidatin in Hamburg aufstellen wollte. Kritik vonseiten der jüdischen Gemeinschaft gab es ebenfalls an ihrer Nähe zur israelfeindlichen BDS-Bewegung.
Akkordeon im »Mädchenorchester«
Bejarano, geboren als Esther Loewy in Saarlouis, erlebte den Nazi-Terror in jungen Jahren. 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert. Dort spielte sie im »Mädchenorchester« Akkordeon - auch für ankommende Häftlinge. Sie überlebte Auschwitz und Zwangsarbeit, wurde später in das Konzentrationslager Ravensbrück eingesperrt und floh auf einem Todesmarsch. Bejarano überlebte, ihre Eltern wurden ermordet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging sie nach Israel, kehrte 1960 mit ihrem Ehemann nach Deutschland zurück und ließ sich in Hamburg nieder. »Das, was sie im Lager gesehen hatte, trieb sie ihr ganzes Leben immer wieder zu den Menschen hin: In ihren späteren Jahren fand sie vielfältige künstlerische Wege, von diesem Ort des Todes zu erzählen und die, die dort ermordet worden waren, vor dem Vergessen zu bewahren«, erklärte der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Christoph Heubner, anlässlich des Todes Bejaranos am 10. Juli 2021.
Einer dieser künstlerischen Wege war die Musik, der sie bis ins hohe Alter nachging. Sie sang Widerstands- und antifaschistische Lieder und auch auf Jiddisch. Da war zum Beispiel die Gruppe Coincidence mit ihren beiden Kindern. Sie trat auch mit den Hip-Hoppern der Kölner Microphone Mafia auf.
Große Bundesverdienstkreuz
In einem Konzertmitschnitt im Internet beschreiben die Musiker ihren ersten Kontakt mit der offenbar schlagfertigen Bejarano am Telefon: Auf den Eingangssatz »Hallo, hier ist der Kutlu von der Microphone Mafia« habe Bejarano gesagt: »Warum ruft die Mafia bei mir an?«
In einem Fernsehinterview erzählte sie einmal: »Ich habe immer gesagt: Ich muss das überleben, ich muss mich rächen an diesen schrecklichen Nazis. Ich glaube, dass ist meine Rache, dass ich eben in die Schulen gehe und erzähle, dass so etwas nie, nie wieder geschehen darf.« In einem der Microphone-Mafia-Konzerte sagt Mitglied Kutlu Yurtseven auf der Bühne in Richtung Bejarano: »Es ist uns eine Ehre, ein Teil Ihrer Rache sein zu dürfen.«
Abseits der Bühne engagierte sie sich im Auschwitz-Komitee sowie in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Sie wurde für ihr Wirken ausgezeichnet, 2012 etwa bekam sie das Große Bundesverdienstkreuz. Mit weiteren Überlebenden traf sie 2015 Papst Franziskus.
Bundesweiter Feiertag
Bejarano setzte sich dafür ein, dass der 8. Mai ein bundesweiter Feiertag werden sollte. Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Bejarano wollte, dass die Menschen begriffen, dass dieser Tag ein Tag der Befreiung war. Einen bundesweiten Feiertag gibt es bisher nicht, aber: Im nächsten Jahr, am 80. Jahrestag, soll der 8. Mai in Berlin ein Feiertag sein.
Noch einmal auf die Bühne: In dem Fernsehinterview sagte Bejarano, dass nach Auftritten Menschen zu ihr kämen, um zu versichern, dass sie ihre Geschichte weitererzählen wollten. »Was kann mir besseres passieren als das?«