»Zehn Prozent der Revolution sind geschafft«, schätzte Hamed Abdel-Samad vergangene Woche in der B’nai-B’rith-Loge. Dem Politologen zufolge betreffen die restlichen 90 Prozent alle Teile der ägypti-schen Gesellschaft: System, Militär, Verwaltung und die Rolle der Religion. Mit Stephan Sattler, Redakteur bei Burda Media, sprach der Autor von Abschied vom Himmel und Der Untergang der islamischen Welt über die Umbrüche in Ägypten, deren Beurteilung in Deutschland und die Folgen für Israel.
»Es war wie ein Erdbeben«, sagte Abdel-Samad. Der 39-Jährige war zuletzt mehrfach in seiner Geburtsstadt Kairo, hat die Demonstrationen live erlebt und wurde zum begehrten Talk-Gast im deutschen Fernsehen. »Wie eine real gewordene Utopie« sei es gewesen, was auf dem Tahir-Platz geschah. Tausende wären quasi »mit offener Brust ins Feuer gelaufen«, nicht als Märtyrer, sondern um ihr Volk von dem brutalen Diktator zu befreien.
Demokratie Die Dimension jenes Triumphs der Hoffnung werde in Deutschland noch nicht begriffen. Für den Politologen haben wir weit mehr erlebt, als die oft zitierte Facebook-Revolution. Der Aufschrei nach Freiheit und Demokratie sei repräsentativ für die ägyptische Gesamtbevölkerung. Gerade die Beteiligung von Frauen an den Protesten und die Reaktionen der Männer, zeige »dass die Demonstrationen von einem neuen Geist getragen wurden«. So gab es weder sexuelle Übergriffe noch Diskriminierung.
Laut Abdel-Samad war der Drang nach Veränderung schon lange zu spüren. »Es lag etwas in der Luft«, beschrieb er die Atmosphäre der vergangenen drei Jahre. Nun endlich habe das laute »Nein« den Bann gebrochen. Sogar die Militärs wurden regelrecht hypnotisiert von einer sagenhaften Energie.
Soldaten, die auf Demonstranten schießen sollten, als der Polizei die Patronen ausgingen, hätten die Befehle einfach ignoriert. Aber Hamed Abdel-Samad ist kein Fantast. »Der Honeymoon von Volk und Militär konnte kein Dauerzustand sein.« Die nun aufscheinende Ernüchterung sei Ausdruck fehlender demokratischer Erfahrungen und – wie für ehemalige Diktaturen typisch – mangelnder Strukturen der zuvor oppositionellen Kräfte.
Freiheit In Ägypten habe es weder Aufklärung noch je eine Zivilgesellschaft gegeben. »Demokratie bedeutet freimütig für sich entscheidende Individuen.« Das wäre in einem vom Islam geprägten System ebenso wenig denkbar wie unabhängige Legislative, Exekutive und Judikative oder eine freie Presse. Freiheit sei eben mehr als die Überwindung von Unterdrückung, so Abdel-Samad.
»Es ist eine Geisteshaltung, die man lernen muss«. Insofern befürwortete er die Idee eines Marshallplans, nach dem Ägypten in Bereichen wie Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft oder Umwelt Hilfe zur Selbsthilfe erhalten soll. Er betonte jedoch, eine neue Kultur des Friedens sei keine Frage des Geldes, sondern der Mentalität. Mit Blick auf Israel kritisierte Abdel-Samad die isolierte Fokussierung des Nahost-Konflikts, als löse die Schlichtung zwischen Israelis und Palästinensern sämtliche Probleme der Region.
Wie es jetzt aussehe, gebe es nur zwei Szenarien: Win-win oder Lose-lose. »Noch haben Demagogen schlechte Karten«. Die Wahlen würden nicht mit antizionistischer Hetze gewonnen, weil die Menschen Lösungen für ihre alltäglichen Sorgen verlangen. Aber es gebe keine Zeit zu verlieren. »Die Menschen müssen schnell spüren, dass sich Freiheit und Demokratie lohnen.«