Niederlage, Zusammenbruch oder Kapitulation? Über die richtige Begriffswahl für den 8. Mai 1945 wird in Deutschland schon lange gestritten. Einen »Tag der Befreiung« nannte ihn Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 erstmals in seiner viel beachteten Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa – eine Formulierung, die selbst heute noch einigen missfällt. Grund genug, noch einmal diejenigen zu Wort kommen zu lassen, für die das Datum eine Befreiung markierte.
ZACHOR Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist eine von ihnen. Im Online-Erinnerungssalon Zachor, moderiert von Rüdiger Mahlo, Repräsentant der Claims Conference in Deutschland, diskutierte sie gemeinsam mit dem Pianisten Igor Levit und der ehemaligen Bundesministerin und Vorsitzenden des Kuratoriums der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), Annette Schavan. Die heute 87-jährige Knobloch erzählte am vergangenen Donnerstag, was sie am 8. Mai 1945 erfahren hatte.
»Für mich war es der Tag der Freiheit«, sagte Knobloch, die versteckt auf dem Land im mittelfränkischen Arberg die Schoa überlebte und freudig die anrückenden Amerikaner begrüßte. »Ich habe die Freiheit förmlich gespürt. Endlich konnte ich wieder angstfrei leben und der Mensch sein, der ich bin.« Sie musste nicht länger ihre Identität als Jüdin verbergen.
Freude und Sorge zugleich herrschten bei der Befreiung. Was ist mit der Familie, fragten sich viele Überlebende.
»Und natürlich war es auch der Tag der Befreiung für die gesamte jüdische Gemeinschaft.« Doch unter die Freude mischten sich in diesem Moment auch Sorgen um ihre Familie. »Ich wusste ja zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was mit ihr passiert ist, und wer überhaupt am Leben war.«
VERFOLGUNGSERFAHRUNG »Von den tiefgreifenden Verfolgungserfahrungen wurden die Menschen, die der Schoa entkommen konnten, damals am 8. Mai 1945 aber nicht befreit«, betont Lukas Welz, Vorsitzender von AMCHA Deutschland, einer Organisation, die Überlebende und ihre Nachkommen psychosozial betreut.
Welz sprach mit den 1930 in Berlin geborenen Zwillingsschwestern Regina Steinitz und Ruth Malin. Zugeschaltet war auch Martin Auerbach, klinischer Leiter von AMCHA Israel in Jerusalem, der seine Arbeit beschrieb: »Wenn wir den Überlebenden wirklich helfen wollen, dann müssen wir das in der Gegenwart tun.« Und zwar in ihrer jetzigen und zukünftigen Lebenssituation.
CORONA-KRISE Zugleich stelle die Corona-Krise die Arbeit von AMCHA vor völlig neue Herausforderungen. So mussten Hausbesuche bei älteren Menschen und auch die Treffen in den einzelnen Hilfszentren eingestellt werden, von heute auf morgen wurden alle Aktivitäten auf digitale Plattformen verlagert.
Genau das eröffnet wiederum völlig neue Möglichkeiten der Weitergabe von Erlebtem. Und so konnte die Journalistin Maria Ossowski von Deutschland aus am 8. Mai mit den heute in Tel Aviv lebenden Zwillingsschwestern darüber sprechen, wie sie denn diesen Tag vor 75 Jahren in Erinnerung haben.
»Es war vor allem ein Moment der Ruhe«, beginnt Ruth Malin zu erzählen. »Noch die Nacht zuvor war wie viele andere vom Lärm der Bomben und den vorrückenden russischen Panzern geprägt. Damit bin ich irgendwann eingeschlafen. Und plötzlich dieser Kontrast: absolute Ruhe.«
Die Schwestern Regina Steinitz und Ruth Malin hatten sich lange vor den »Greifern« der Gestapo verstecken können.
Die beiden Schwestern hatten sich mit der Behauptung, sie wüssten nicht, wer ihr Vater sei, erfolgreich vor den »Greifern« der Gestapo verstecken können. »Meine Befreiung fand aber bereits vor dem 8. Mai statt«, berichtet Regina Steinitz. »In Heiligensee hatte ich als Pflegerin eines alten Mannes in einer Villa Anstellung gefunden. Und dort waren die Russen schon einige Tage früher.«
ROTE ARMEE Für sie waren die Soldaten der Roten Armee die sehnlichst erwarteten Befreier. Aber auch Regina Steinitz, die zu diesem Zeitpunkt im Keller dieses Hauses saß, hat in erster Linie eines in Erinnerung. »Es herrschte eine vollkommene Totenstille. Das war meine Befreiung.«
Zeitzeugen wie Charlotte Knobloch, Regina Steinitz und Ruth Malin sollten stärker als bisher in den Debatten um die Begriffswahl für den 8. Mai 1945 zur Kenntnis genommen werden. Noch besteht dazu die Möglichkeit – sogar in Zeiten der Corona-Krise.