Porträt der Woche

»Es gibt viele Wege zu Gott«

»Kein Mensch darf wegen seiner Nationalität oder Religion schlecht behandelt werden«: Maria Vinokurova (18) Foto: JA

Ich wünschte, mein Leben wäre ein Musical. Beim Singen und Tanzen geht es mir gut. Das entspannt einfach! Inzwischen singe und tanze ich nur noch für mich allein – ich drehe die Musik auf und tanze querbeet durch die Wohnung.

Früher bin ich ein paarmal als Sängerin bei der Jewrovision angetreten, dem Musik- und Tanzwettbewerb der jüdischen Jugendzentren, das erste Mal schon mit fünf Jahren. In diesem Jahr habe ich drei Mädchen aus unserem Jugendzentrum für die Jewrovision in Köln trainiert. Das Video unserer Gruppe, in dem wir Freiburg und das Jewrovision-Motto »Make a difference« präsentiert haben, wurde als bestes Vorstellungsvideo ausgezeichnet. In der Jüdischen Gemeinde leite ich eine Kindergruppe. Doch wahrscheinlich ziehe ich bald weg. Denn ich will studieren.

schule Ich mache gerade mein Abi. Vor den Klausuren habe ich mir sehr viel Stress gemacht. Zu viel! Ich saß jeden Tag in der Bibliothek und habe dort gebüffelt, weil zu Hause zu viel Ablenkung war. Vor allem vor Mathe hatte ich Horror. Erstaunlicherweise hat es dann richtig Spaß gemacht, die Klausuren zu schreiben.

Ich fand die Schulzeit interessant und bin ein bisschen traurig, dass es nun vorbei ist. Unser Mathelehrer hat einmal gesagt: Ich zwinge niemanden zu Mathe, es ist eure Entscheidung. Und wahrscheinlich werdet ihr von dem, was ihr hier lernt, später nichts mehr brauchen. Aber ihr lernt hier zu denken. Ich finde, er hat recht. In der Schule lernt man zu denken und zu argumentieren. Deshalb ist die Schule wichtig.

Jetzt freue ich mich auf die Selbstständigkeit. Ich mag Freiburg sehr. Es gibt hier kaum Orte, die nicht hübsch sind. Dennoch möchte etwas Neues sehen und gern allein wohnen. Bei uns zu Hause ist immer so viel los, obwohl wir nur zu dritt sind, nur meine Eltern und ich. Doch ich brauche ab und zu einfach meine Ruhe. Ich habe mich an mehreren Unis beworben, zum Beispiel in Heidelberg, Tübingen, Mannheim, München und Frankfurt.

Bis vor zwei Jahren wollte ich noch Medizin studieren, aber wegen des Numerus clausus müsste ich zu lange warten. Da studiere ich lieber Biomedizin, das ist auch superspannend: Mich interessiert, wie der menschliche Körper funktioniert, wie Krankheiten entstehen. Früher wollte ich Modedesignerin werden, dann Staatsanwältin oder Richterin, aber nach einem Praktikum beim Gericht habe ich es mir anders überlegt.

jugendzentrum Mit fünf Jahren kam ich ins Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde in Freiburg. Meine Oma hatte mich dorthin mitgenommen. Meine Großeltern gehen regelmäßig in die Synagoge. Mein Vater ist russisch-orthodox, zu Hause feiern wir alles, sowohl die russisch-orthodoxen als auch die jüdischen Feste. Aber meine Familie nimmt es nicht so genau mit der Religion. Ich bin die Jüdischste bei uns zu Hause. Wenn ich in die Gemeinde oder in die Synagoge komme, berührt mich das sehr.

Ich liebe die Gebete, die Texte sind so schön. Ich bin zwar nicht orthodox, halte den Schabbat nicht ein und esse auch nicht streng koscher. Aber ich denke nicht, dass Gott mich deswegen weniger mag. Das Wichtigste ist ja nicht, alle Gesetze einzuhalten, sondern einen Weg zu Gott zu finden. Meine Familie konnte mir nicht so viel vom Judentum vermitteln, ich wurde als Kind auch nicht in den jüdischen Religionsunterricht geschickt. Doch ich habe sehr viel über das Jugendzentrum und die Gemeinde mitbekommen.

Mir hat es dort gleich sehr gut gefallen, es hat alles immer so viel Spaß gemacht. Die Kinder im Jugendzentrum wollen eine Menge von mir wissen. Sie fragen mich: Wie ist die Tora aufgebaut? Warum tragen Jungs eine Kippa? Ich weiß nicht alles, ich habe viele Wissenslücken. Ich versuche, mir selbst möglichst viel beizubringen, vor allem durch Lesen.

Mit 15 Jahren habe ich begonnen, mich als Madricha ausbilden zu lassen, als Jugendleiterin. Ich habe viele Seminare besucht. Die Jüngsten in meiner Gruppe sind fünf Jahre alt – genauso alt wie ich damals war, als ich anfing –, die Ältesten 17. Wir sind nicht so viele, ungefähr zehn. Das macht nichts, denn dadurch ist alles sehr familiär. Wir treffen uns jeden zweiten Sonntag. Ich gestalte unser Programm so, dass trotz des unterschiedlichen Alters alle etwas davon haben. Manchmal machen wir Ausflüge in Freizeitparks, oft spielen wir, basteln oder stellen Badekugeln und Seife her. Oder wir gehen einfach raus zum Kicken.

Machanot Natürlich ist es auch wichtig, Inhalte zu vermitteln, Religiöses und alltägliche Werte. Zum Beispiel Nächstenliebe. Oder dass es nicht gut ist zu lügen. Bald fahren wir wieder ins Machane, eines unserer Ferienfreizeitlager. Unser nächstes Thema heißt »Helden«. Wir wollen den Kindern zeigen, dass Helden keine großen Dinge tun müssen, es genügt Kleines, Unspektakuläres, etwa, sich umweltfreundlich zu verhalten oder im Alltag nett miteinander umzugehen.

Ich habe immer viel Spaß bei den Machanot. Man kommt todmüde zurück, weil man keine Nacht geschlafen hat, aber es ist gut. Ich habe dort einen Freundeskreis, der sich über ganz Deutschland verteilt. Es ist etwas Besonderes mit jüdischen Freunden: Die Religion verbindet uns, und wir haben eine andere Umgangsart: vielleicht ein bisschen lauter und lebendiger. Ich glaube aber, Jugendliche bei den Pfadfindern oder der Katholischen Jungen Gemeinde empfinden das untereinander ebenso.

familiengeschichte Manchmal, wenn ich beim Essen mal wieder schwierig bin, weil ich vieles nicht mag, sagt meine Oma: Früher in der Sowjetunion hättest du alles gegessen! Meine Familie stammt von dort. Meine Eltern wurden nahe bei Kiew in der Ukraine geboren. Sie sind Anfang der 90er-Jahre nach Deutschland gekommen, meine Großeltern schon ein paar Jahre früher. Sie erzählen gern von damals. Wenn ich in der Ukraine leben würde, wäre alles anders, mein ganzes Leben, das weiß ich.

Ich wurde in Freiburg geboren und habe immer hier gewohnt. Ich möchte in Deutschland bleiben, ich kann mir gar nichts anderes vorstellen. Ich schätze es sehr, hier leben zu können. Ich habe hier viele Optionen für mein Leben. Als ich mit vier oder fünf Jahren in den Kindergarten kam, konnte ich kaum Deutsch. Das war schwer für mich. Ich habe immer an den Erzieherinnen geklebt. Doch ich habe die Sprache schnell gelernt. Inzwischen fühle ich mich schon lange nicht mehr als Ausländerin.

Von meinen Großeltern weiß ich, wie schlecht es ihnen und meinen Urgroßeltern im Zweiten Weltkrieg und danach ging. Es war so schwer, Essen und Kleidung zu bekommen, und Juden wurden diskriminiert. Ich interessiere mich sehr für Geschichte, darum habe ich es als mündliches Abiturfach gewählt. Vor allem beschäftige ich mich mit dem Nationalsozialismus. Als Jüdin gehört das für mich zusammen: die Erzählungen meiner Großeltern und die Vergangenheit.

verantwortung Das heutige Deutschland ist ganz anders als das frühere. Ich mag Deutschland sehr. Heute müssen sich Deutsche nicht mehr schuldig fühlen für die Vergangenheit. Doch sie sollten, wie auch alle anderen Menschen auf der Welt, achtgeben, dass so etwas wie damals nie mehr passiert.

Manchmal denke ich, dass es wieder geschehen könnte. Ich glaube, der Antisemitismus wird nie verschwinden. Der Fremdenhass wächst, besonders die Diskriminierungen gegenüber Muslimen. Ich fühle sehr mit ihnen. Denn ich kann es nicht ertragen, wenn Menschen wegen ihrer Nationalität oder Religion schlecht behandelt werden.

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