Im Moment habe ich von morgens bis abends nur das Theater im Kopf, weil ich gerade beim Stück Benjamin – wohin? am Deutsch-Jüdischen Theater Regie führe. Meine Freundinnen können es schon nicht mehr hören, weil jedes meiner Worte damit zu tun hat.
Doch ich bin in jeder wachen Minute mit all den Dingen in meinem Kopf beschäftigt, die jetzt zu tun sind. Und zu tun ist vieles, denn wir sind ein kleines Haus mit wenigen Händen und einem großen Ziel. Vieles, was wir tun, ist ehrenamtlich, aber auch mit unseren begrenzten Mitteln schaffen wir es, Gefühle zu vermitteln. Und darum geht es für mich im Theater. Vielleicht haben wir nicht den besten Vorhang der Welt, aber wir haben einen gemeinsamen Traum.
Dabei steht für uns nicht nur Amüsement im Vordergrund. Wir zeigen menschliche Probleme, die wir trotz unterschiedlicher Hintergründe und Herkünfte alle haben. Und wir suchen nach Fragen, die jeder versteht und die sich jeder Mensch stellt: Was ist Glück? Wann ist man glücklich? Warum ist der eine zufrieden mit dem, was er hat, während der andere rastlos wird?
schtetl Diese Fragen bestimmen auch das Stück Benjamin – wohin?. Darin geht es um zwei Juden aus einem Schtetl, die die Enge ihres Dorfes verlassen, um nicht nur die Welt zu entdecken, sondern auch die ganze Menschheit zu bereichern. Die Geschichte wird mit einer großen Portion schwarzem Humor erzählt, was mir sehr liegt.
Meine eigene Familie stammt aus einem solchen kleinen Schtetl, was ich allerdings erst spät erfahren habe. Heute ist von diesem Ort nichts mehr übrig, und auch mit dem Dorfleben im heutigen Sinne hatten die Schtetl nicht viel zu tun.
In diesen abgeschlossenen Siedlungen lebten die Menschen sehr eng zusammen, teilweise waren diese Orte sogar überfüllt, aber die Menschen waren sehr interessant und haben zum Beispiel viel gelesen – auf Hebräisch, während Jiddisch eher die Umgangssprache war.
Von dieser Kultur sollten wir mehr lernen, denn die Fragen, die sich in den Schtetln stellten, sind zeitlos: Wie denkt man? Wie wird man motiviert? Wie träumt man? Juden hatten schon immer Träume, waren unruhig – das Ergebnis dieser Unruhe findet man etwa in der reichen Literatur und Kultur.
horizont Ich selbst bin 1991 nach Berlin gekommen. Geboren wurde ich in Moskau. Vielleicht habe ich mich ein wenig wie Benjamin gefühlt: Ich war jung und hatte den Drang, meinen Horizont zu erweitern, die Welt zu sehen. Zu jener Zeit konnte man endlich reisen, und ich nutzte die Gelegenheit und wanderte nach Deutschland aus.
In Moskau hatte ich Betriebswirtschaftslehre studiert und auch meinen Abschluss gemacht, doch schon während meines Studiums begann ich mit der Schauspielerei, schrieb Lieder und bin so schließlich auch zur Regie gekommen. Eigentlich haben mich die Künste schon während meiner Kindheit beschäftigt.
Viele Jahre arbeitete ich allerdings als Projektleiterin und Buchhalterin. Ich habe quasi ein Doppelleben geführt – wie schon meine Mutter, eine Naturwissenschaftlerin, die auch die ganze Zeit am Theater war und dazu noch Klavier spielte.
Meine Tochter studiert Zahnmedizin, ist aber auch eine talentierte Malerin und Jazzmusikerin. Und das sage ich, obwohl ich sehr kritisch bin – anders als die typische jüdische Mutter. Insgesamt scheint das Doppelleben von Kunst und ordentlichem Beruf also bei uns in der Familie zu liegen. Vor einem Jahr hätte ich dennoch die Frage nach meinem Beruf mit »Buchhalterin« beantwortet.
humor Wenn man mich heute fragt, sage ich, dass ich beim Theater bin. Und nach 20 erfolgreichen Stücken traue ich mich vielleicht auch einmal, mit »Regisseurin« zu antworten.
Gleichzeitig kümmere ich mich aber auch um die Finanzen unseres Theaters, denn jeder hier macht, was er kann. Das bedeutet für viele von uns, mehrere Aufgaben zu übernehmen. Unser Beleuchter zum Beispiel betreut auch unseren Webauftritt.
Mit meinen nichtjüdischen Schauspielern habe ich in Vorbereitung auf die Inszenierung viel über die Geschichte der Schtetl gesprochen, damit sie sie verstehen. Dabei kann ich ihnen natürlich nur meine subjektive Sicht vermitteln.
Wichtig war mir, ihnen die Besonderheit des jüdischen Humors zu verdeutlichen. Dafür habe ich ihnen aus meinem Leben und dem meiner Bekannten erzählt, damit sie begreifen, warum wir selbst in schlimmen Zeiten lachen, obwohl wir weinen könnten.
Pessachgeschirr Das gehört für mich zum Judentum – mit dem ich selbst bis zu meinem 25. Lebensjahr nur wenig zu tun hatte. Ich war zehn Jahre alt, als ich das Wort »Jude« zum ersten Mal hörte, obwohl meine Vorfahren religiös waren. Erst als meine Großtante Bücher und Pessachgeschirr nach Berlin brachte, habe ich mehr von ihr erfahren, denn erst hier verlor sie die Angst, über das Judentum zu sprechen.
Meine eigene Identifikation mit dem Judentum ist etwas, das sich mein Leben lang entwickelt – ein Weg, den ich gehe, damit ich zu meinen Vorfahren zurückkehren kann. Viele Traditionen, so zum Beispiel jüdische Lieder oder jüdische Gerichte, habe ich erst dadurch gelernt, dass meine Tochter den jüdischen Kindergarten in Berlin besuchte.
Als Jüdin in Deutschland denke ich, dass wir die Vielfalt unserer Kultur bewahren müssen – gerade in den heutigen Zeiten. Und wir sollten sie zeigen, so wie wir das am Deutsch-Jüdischen Theater tun. Dabei sehe ich uns als neutrales Territorium: Hierher kommen auch nichtjüdische Deutsche, die vielleicht Angst haben, die Gemeinde zu besuchen.
ehrlichkeit Wir präsentieren ihnen insbesondere die jüdischen Traditionen der 20er-Jahre und haben uns vorgenommen, diese mit unseren Stücken, Lesungen und »Shabat Shalom«-Abenden fortzusetzen und weiterzugeben. Unser deutsch-jüdisches Repertoire-Theater ist für mich einmalig in Deutschland. So sehe ich uns als Kulturvermittler und als Zeichensetzer gegen Antisemitismus.
Denn mit unserem breit gefächerten Programm wollen wir auch Vorurteile abbauen. Bei uns kann man sich kennenlernen – und wie ginge das besser als mit Kultur? Kennenlernen funktioniert nicht unter Zwang, das muss sich von selbst ergeben. So wie bei Nachbarn. Wenn man nachbarschaftlich lebt, lernt man sich automatisch kennen.
In unserem Theater steht Ehrlichkeit an erster Stelle. Dazu gehört auch, den jüdischen Charakter in all seiner Kompliziertheit und Vielseitigkeit zu zeigen. Wir öffnen quasi unsere Seele, und das wird gewürdigt, wie die schönen Einträge im Gästebuch zeigen.
Benjamin, der Titelheld unseres aktuellen Stücks, ist auch so eine Figur der Gegensätze: zwischen Gier und Großzügigkeit, Verträumtheit und Realismus, Witz und Ernst. Insgesamt denke ich, dass das Judentum so viele sich widersprechende Qualitäten wie keine andere Kultur in sich vereint.
inspiration Benjamin – wohin? von Hermann Sinsheimer ist das zweite Stück, bei dem ich am Deutsch-Jüdischen Theater Regie führe. In meiner Regie lasse ich den Schauspielern gewisse Freiheiten. Natürlich achte ich auch auf die Wirkung der Texte, den Einsatz der Requisiten und der Kostüme sowie die Geometrie auf der Bühne. Aber zunächst sollen sich die Darsteller in ihrem Spiel wohlfühlen.
Deswegen versuche ich, als Regisseurin positiv zu sein, nicht ständig zu unterbrechen oder laut zu werden. Vieles beruht dabei auf Intuition: Mir ist egal, wo jemand genau auf der Bühne steht, solange das Gefühl stimmt, das der Schauspieler in dem Moment transportiert.
Das ist doch überhaupt das Besondere am Theater! Hier sind Gefühle auf Augenhöhe möglich. Das richtige Leben wird gezeigt, das eröffnet etwas Einmaliges. Im Film wird geschnitten und montiert, um ein Produkt herzustellen. Aber das Theater ist kein Produkt, sondern Inspiration, die man nicht erzwingen kann. Es existiert nur für einen Moment, aber dieser kurze Moment ist mit Seele gefüllt. Für mich hat das Theater auf diese Art und Weise etwas Magisches. Mehr noch: Es hat meinem Leben Sinn gegeben. Erst jetzt habe ich das Gefühl, dass ich mich wirklich an dem für mich richtigen Platz befinde.
Aufgezeichnet von Alice Lanzke