Zentralratspräsident Josef Schuster spricht unterm Sternenhimmel. Die Decke der alten Synagoge von Ichenhausen in Bayerisch-Schwaben ziert ein blaues Firmament mit leuchtenden Himmelskörpern. Was Schuster sagt, passt zum Bild der Nacht – allerdings zu einer finsteren. »Ich mache mir ernsthaft Sorgen um die Demokratie in Israel«, erklärt er. Denn in Israel laufe eine Justizreform, »die die Justiz letztlich aushöhlt«. Schuster betont: »Ich finde das völlig unverständlich, auch inakzeptabel.«
Am Mittwochabend vergangener Woche war Schuster zu Gast in Ichenhausen, einem kleinen Ort zwischen Ulm und Augsburg mit großer Geschichte: Ichenhausen beherbergte einst die größte jüdische Landgemeinde Bayerns. Um 1830 galt fast die Hälfte der Ichenhausener Bevölkerung als jüdisch, das entsprach rund 1200 Menschen.
talk-reihe An diese Geschichte erinnern seit September 2022 die »Ichenhausener Synagogengespräche für die Zukunft«. Angestoßen hat diese Talk-Reihe Rafael Seligmann, der die Gespräche nun moderiert, gemeinsam mit Klaus Wolf. Seligmann lebt als Publizist in Berlin und hat familiäre Wurzeln in Ichenhausen. Wolf arbeitet als Literaturprofessor an der Universität Augsburg und ist Vorsitzender der Stiftung zum Erhalt der einstigen Synagoge Ichenhausen.
Das Thema Judenfeindlichkeit ist an diesem Abend schmerzlich präsent.
Ziel ist es den Initiatoren zufolge, »von jüdischen Werten ausgehend aktuelle Debatten mit Strahlkraft in die Gesellschaft zu tragen, nicht zuletzt angesichts eines immer lauter werdenden Antisemitismus«.
Das Thema Judenfeindlichkeit ist an diesem Abend schmerzlich präsent. Auf den Tag genau 80 Jahre ist es her, dass die letzten zehn Ichenhausener Juden zum Bahnhof der Stadt geführt und in Vernichtungslager der Nazis transportiert wurden.
brandmauer »Es wird keine Zukunft ohne die Vergangenheit geben«, sagt Josef Schuster. Diese Vergangenheit habe leider nicht vor »plumpem Antisemitismus auf der documenta« geschützt. Sie schütze auch nicht vor der AfD, die offen judenfeindlich agiere. »Ich hoffe, dass die im Bundestag vertretenen Parteien die Brandmauer nach rechts halten. Besonders mit dem Blick nach Ostdeutschland mache ich mir da manchmal Sorgen.«
Das Judentum habe in Deutschland nur dann eine Zukunft, »wenn wir uns darauf einigen können, dass wir hier willkommen sind – mit allem, was dazugehört«, sagte Schuster in einem Eingangsstatement. Es müsse in Deutschland möglich sein – oder wieder möglich werden –, »überall mit einer Kippa auf dem Kopf oder einem Davidstern um den Hals durch die Stadt zu laufen, ohne angepöbelt oder verprügelt zu werden«. Jüdisches Leben ohne Juden, ohne funktionierende jüdische Gemeinden, betonte Schuster, »das gibt es nicht«.
Natürlich könne man ein historisches Kulturerbe, könne man jüdische Friedhöfe und ehemalige Synagogen auch ohne Juden pflegen, sagte Schuster. Man könne sie »hübsch herrichten, damit sie dann von Touristen besichtigt werden. Aber unter jüdischem Leben verstehe ich etwas anderes. Ich verstehe darunter gelebtes Judentum, aktive jüdische Gemeinden. Gemeinschaft entsteht nicht durch den Besuch schöner Gebäude, sondern durch das Zusammenkommen von Menschen.«
Glaubwürdigkeit Der Moderator fragte Schuster, warum der Zentralrat der Juden einer Umfrage zufolge eine deutlich höhere Glaubwürdigkeit genieße als die beiden großen Kirchen. Die jüdische Seite, erwidert der Präsident, sei »Gott sei Dank nicht so in den Schlagzeilen« gewesen, er denke an den Komplex Missbrauch. »Das ist bisher bei uns kein Thema.«
Das Format zeige, dass man sich seiner Geschichte stellen könne.
Gleichwohl lege er nicht für alle Rabbiner die Hand ins Feuer. Seligmann will wissen, wie die Glaubwürdigkeit des Zentralrats künftig gehalten oder noch gesteigert werden könne. »Wir sagen weiter das, was wir denken«, antwortet Schuster. »Ob’s bequem ist oder nicht. Wir zeigen weiter unser Unbehagen.«
zivilcourage Was man gegen Antisemitismus tun könne, hakt Seligmann nach. »Zivilcourage zeigen, auch in der Familie und unter Freunden, gerade da«, sagt Schuster. Und warum in Deutschland vergleichsweise wenige Menschen auf die Straße gingen, wenn Muslime Kundgebungen voller Israel-Hass abhielten, will Seligmann daraufhin wissen. »Ich glaube, das Thema Israel ist der deutlichen Mehrheit der deutschen Bevölkerung relativ egal.« An dieser Stelle müsse er aber »selbstkritisch« sein, fügt Schuster an. »Der Konflikt zwischen China und Taiwan würde mich wohl auch nicht zu einer Demonstration führen.«
Die Sterne an der Decke leuchten noch immer, als Rafael Seligmann und Josef Schuster nach einer Stunde ihr Gespräch beenden. Und nach all den dunklen Themen spricht der Zentralratspräsident dann doch noch etwas Helles an: »Es gibt ein Wort, das mir Mut macht. Und dieses Wort heißt: Ichenhausen.« Das Format zeige, dass man sich seiner Geschichte zukunftsgewandt stellen könne.
Die nächsten »Ichenhausener Synagogengespräche« sind für den 22. Mai geplant. Als Gast wird Christian Kullmann, der Vorstandsvorsitzende des Chemieunternehmens Evonik, erwartet.