Los geht’s: einen Teigstrang kurz anheben, nach rechts klappen, fast gleichzeitig den senkrecht darüber liegenden Teigstrang nach oben klappen und den rechten darunterlegen, dann den oberen Strang wieder nach vorn klappen – und dann mit der anderen Seite genauso verfahren. Alles verstanden?
Wenn Laurel Kratochvila die runde Challe zu Rosch Haschana flicht, geht es schnell, und zum Schluss passt alles. Die Enden werden unter den runden Laib gedrückt, dann nur noch etwas Eistreiche rauf – jetzt kann der Teig wieder ein wenig ruhen, in der Backstube des Café-Buchladens »Shakespeare & Sons« an der Warschauer Straße. Zwischen 60 und 90 Minuten kann er gehen. Es ist die zweite Teigruhe.
teigkugeln Der Regen im Hinterhof prasselt, der Wind weht kraftvoll ein paar Zweige von den Sträuchern. Draußen ist es kalt, drinnen die Temperatur, bei der sich Teige wohlfühlen. Laurel steht im Tanktop mit umgebundenem Handtuch und formt aus den handtellergroßen Teigkugeln lange Schlangen, macht eine Kuhle entlang der Mitte, legt ein paar Rosinen hinein und verschließt den Teigstrang durch Rollen.
Hinter ihr warten Bagels darauf, ins Café getragen zu werden, vorbei an Bücherregalen und jungen Gästen, die Sonntagnachmittag frühstücken und Gebäck in Flat White tunken. »Ein Tag ohne Brot … das wäre ein echt hungriger Tag«, sagt Kratochvila. Brot ist ihr Zuhause. »Und es gibt wohl kein anderes Brot, das mehr mit einem Sandwich in Verbindung gebracht wird als ein Roggenbrot mit Kümmel. Es ist das Brot, das man genießt, wenn man bei den Großeltern ist.«
Challe bedeutet für Kratochvila vor allem Tradition und ein bisschen Entspannung.
Eine gute Challe aber, das sei etwas anderes. Sie sollte nicht zu süß sein, aber doch süß genug, viel Ei muss auf jeden Fall hinein, denn das »verleiht dem Brot etwas Kuchenartiges«. Ganz wichtig: kein Eiweiß! Nur Eigelb, aber das habe den Vorteil, sagt Laurel, dass man eine Menge Baisers machen könne. Außerdem müsse der Glanz stimmen. Ein schönes Braun, das Knusprigkeit vermuten lässt.
Challe bedeutet für Kratochvila vor allem Tradition und ein bisschen Entspannung. Es fühle sich gut an, während des Backens ein klein wenig zu entschleunigen. »Ich selbst backe zu Hause fast keine Challe mehr, weil ich die Bäckerei habe, aber wenn ich es mache, ist es für mich schon etwas Besonderes, denn dann habe ich mich bewusst dazu entschieden.«
BUCH Das Rezept ist glücklicherweise kein Geheimnis mehr, denn Laurel Kratochvila hat es für alle, die es nachbacken wollen, in ihr Buch Neues Backen mit aufgenommen, das vor ein paar Wochen erschienen ist. Neues Backen, das bedeutet für die in Frankreich ausgebildete Bäckerin neben Sauer- und Briocheteig oder Kolatschen vor allem auch ein Netzwerk aus Bäckerinnen und Bäckern, die neue Wege gehen wollen.
»Ein Tag ohne Brot, das wäre ein echt hungriger Tag«, sagt Laurel Kratochvila.
Wie die französische Bäckerin Julie Bouland, die in einer kleinen Gemeinde im Département Drôme Kanelbullar, also dänische Zimtschnecken, in den Ofen schiebt. Oder Paula Gouveia und George Andreadis, ein portugiesisch-griechisches Paar, das in seiner »Bekarei« im Prenzlauer Berg Pão de Deus, süße Hefeteilchen, zubereitet. Die Welt steht dann immer ein bisschen still, wenn Liebhaber von Gebäck und Brot in ein gutes Produkt beißen.
Viel Mühe und Liebe steckt in den kleinen Teilchen. Und manchmal fährt Kratochvila auch viele Kilometer weit, um eine besondere Zutat zu holen. Wie für die Jagodzianki, polnische Blaubeertaschen. Als Neuengländerin habe sie ein schlechtes Gewissen, die Blaubeersaison in Polen als fast unvergleichbar zu bezeichnen, aber um die kleinen süßlich-herben Beeren zu erstehen, fuhr Laurel bereits das eine oder andere Mal ins Nachbarland.
IRONIE Ein wenig, beschreibt Kratochvila, sei es schon ironisch, dass sie heute in Berlin jiddische Klassiker wie Rugelach backe, denn diese alten Rezepte stammen von ihrer Familie, die Europa vor 100 Jahren in Richtung USA verlassen hatte.
Und jetzt, da es auf Rosch Haschana zugeht, ist die gebürtige Bostonerin »ziemlich oldschool«. »Ich mache so oft Neues, dass ich für die Feiertage lieber auf Bewährtes zurückgreife.« Ein süß-saures Brisket, eine Rinderbrust, damit könne man nichts falsch machen. Ein kleines Essen mit Freunden – vielleicht auch eine selbst gebackene runde Challe. »Der Teig macht sich fast wie von selbst, und das Flechten, das geht ganz schnell.«
Laurel Kratochvila: »Neues Backen. 99 Backrezepte aus ganz Europa, von Roggenbrot bis Rugelach«. Prestel, München 2022, 272 S., 32 €