Herr Strotdrees, jüdisch inspirierte Kunst und jüdisches Leben rund um Synagogen werden im Rahmen des Festjahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« präsentiert. Warum haben Sie Ihre Aktivitäten der Präsentation des ländlichen Judentums gewidmet?
Ich wollte eine weniger bekannte Seite jüdischer Geschichte präsentieren. Das Leben der Landjuden wird seltener thematisiert, gerade hier in Westfalen ist da noch vieles kaum bekannt oder sogar unerforscht.
Viehhändler und Kaufleute finden sich in der Vergangenheit viele. Sie haben in Westfalen und Lippe aber auch jüdische Landwirte entdeckt.
In Teilen bis 1847 war es Juden in Westfalen verboten, Land zu besitzen. Sie durften keine Landwirte sein. Aber es gab sie – nicht nur im Süddeutschen. Allerdings waren sie eine Minderheit in der Minderheit. Um 1910 lebten 2,7 Prozent aller jüdischen Erwerbstätigen in Westfalen von und in der Landwirtschaft.
Das waren »Vollerwerb«-Bauern?
Wir finden in Westfalen den Großbauern ebenso wie den Kaufmann, der sich ein Gut kauft, auch als Zeichen seiner Assimilationsbestrebungen, wie es etwa auch Gerson Bleichröder getan hat, der Bankier Bismarcks. Es gab außerdem jüdische Viehhändler, die Land besaßen, Pferde hielten oder Viehwirtschaft betrieben. Aber die übergroße Mehrheit der jüdischen Landeigentümer hat wie ihre nichtjüdischen Nachbarn einen Garten und etwas Acker- oder Weideland besessen. Ihr Landbesitz war oft kleinteilig und überschritt nur selten eine Flächengröße von zwei Hektar.
Kleinbauern also?
Genau. Bereits um 1850 verfügten deutlich mehr Landjuden in Westfalen, als es die Statistik vermuten lässt, über ein Stück Land, das sie entweder erworben oder gepachtet hatten. Wenn sie selbst die Flächen nicht bewirtschafteten, so geschah dies gegen Lohn durch ihre christlichen Nachbarn. Ähnlich ließen auch viele ihrer christlichen Nachbarn die Arbeiten »in Lohn« erledigen.
Dazu kamen die Viehhändler?
Ja, unter den Viehhändlern in Westfalen gab es einen erheblichen Anteil an Juden.
Können Sie Beispiele nennen?
Die Familie Humberg lebte in den 1880er-Jahren in Dingden bei Bocholt vom Textilhandel und von einer Metzgerei, besaß eigenes Vieh und zehn Hektar Land. Oder die Viehhändlerfamilie Steinfeld in Versmold: Sie bewirtschaftete in den 1920er-Jahren 15 Hektar »Judenwiesen«, wie die Flächen von ihren Nachbarn genannt wurden. Landjuden hatten im 19. Jahrhundert diese für sie typische Mischökonomie entwickelt: Sie betrieben Handel mit Kleinwaren, mit Textilien, vor allem aber mit Getreide und/oder mit Vieh – und bewirtschafteten einen kleinen Landbesitz im »Nebenerwerb«. Bei allen Unterschieden wissen wir eines genau: Der uralte Topos der Antisemiten, Juden hätten nicht zum Pflug gegriffen, ist falsch.
Gab es Ressentiments gegen die jüdischen Nachbarn?
Als Händler wurden sie einerseits geachtet und geschätzt, andererseits auch misstrauisch betrachtet – oder gemieden. Wirtschaftlicher Neid spielte ebenfalls eine Rolle. Im ländlichen Raum war ein diffuser Antijudaismus verbreitet, der immer wieder offen ausbrach – etwa in Werl, in Geseke oder in Enniger, wo es 1873 sogar zu einer Art Pogrom gekommen ist. Und sowohl im katholischen Münsterland als auch im protestantischen Minden-Ravensberger Land oder dem Siegerland haben antisemitische Prediger zahlreiche Anhänger gefunden.
Die Nationalsozialisten sind schon sehr früh gegen jüdischen Landbesitz vorgegangen?
Ja, schon 1933 im NS-Reichserbhofgesetz. Es schloss ausdrücklich jüdische Landwirte und Grundeigentümer von der »Erbhoffähigkeit« aus. Und es war das erste Gesetz des NS-Regimes, das den Begriff des »jüdischen Blutes« benutzte. Für Landjuden, jüdische Landwirte und Grundeigentümer kam in den folgenden Jahren eine Fülle weiterer Einschränkungen, Sonderregelungen und Verbote hinzu: »Volljuden« und »Mischlinge« wurden von der Landhilfe ausgeschlossen. Auf »arischen Erbhöfen« durften Jüdinnen und Juden weder ausgebildet noch angestellt werden. Jüdische Landwirte und Landeigentümer wurden schließlich nach dem Pogrom 1938 enteignet und vertrieben: in ganz Deutschland wurden fast 46.000 Hektar Landeigentum »arisiert«.
Und warum konnten in dieser Zeit jüdische Hachschara-Lehrgüter zur landwirtschaftlichen Ausbildung existieren?
1935 gab es mehr als 30 solcher Lehrbetriebe für Landwirtschaft und Gartenbau. Sie sind teilweise schon um 1900 im Zuge der jüdischen Jugendbewegung und des Zionismus entstanden und wurden dann vom NS-Regime geduldet, weil diese Güter die Auswanderung der Juden vorbereiteten. Bis 1938 konnten über die Hachschara mehr als 18.000 jüdische Jugendliche aus Deutschland emigrieren.
Gab es so eine Einrichtung auch in Westfalen?
Ja, seit 1933 eine einzige – auf einem Bauernhof bei Westerkappeln im Münsterland. Er gehörte dem Osnabrücker Pferdehändler Rudolf Stern und seinem Bruder Leo Stern. Die beiden hatten bei einer Zwangsversteigerung den Hof mit dem Wohnhaus, den Stallungen und Scheunen sowie rund 20 Hektar Land erworben. Der Pfadfinderbund »Makkabi Hazair« pachtete ihn und baute dort eine Ausbildungsstätte auf. Sie wandte sich an jüdische Schulabgänger, denen aufgrund der NS-Gesetze eine berufliche Ausbildung verwehrt war.
Weiß man, wie viele dort gelebt und gelernt haben?
Nach den erhaltenen Melderegistern durchliefen mehr als 100 Jugendliche bis 1938 den »Kibbuz Westerbeck«. Viele fanden dadurch einen Weg ins rettende Ausland. Rudolf Stern wurde nach der Pogromnacht 1938 gezwungen, den Hof zu verkaufen. Er überlebte die Deportation und die Kriegsjahre im Ghetto in Riga. Stern kehrte 1945 nach Osnabrück zurück – und er konnte die Rückerstattung des Bauernhofs vor Gericht durchsetzen.
Mit dem Historiker und Redakteur der Fachzeitschrift »Wochenblatt für Landwirtschaft und Landleben« (Münster) sprach Hans-Ulrich Dillmann.