Der Einband wirkt prächtig: Rote und goldene Pailletten schmücken das Titelbild mit dem vierten Weinkelch für Elijahu. Blau glitzert der Schriftzug »Haggada«. Der Inhalt ist eher dürftig: Da hat den jungen Künstler, der dieses Werk für den Familienseder gestaltet hat, wohl die Geduld verlassen.
Blass, leer und farblos sehen die vorgedruckten Bilder aus, die den Pharao, die zehn Plagen und den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten zeigen. Nicht ein einziges hat der kleine Benjamin mit seinen Buntstiften ausgemalt. Mittlerweile ist der Junge fast erwachsen, aber dieses unvollendete Werk aus seinen Kindergartentagen hat bis heute einen Ehrenplatz im Bücherregal seiner Eltern.
Esthers Söhne, die wie Benjamin in den jüdischen Kindergarten im Frankfurter Westend gegangen sind, haben zumindest versucht, die Bilder in ihrer Haggada ordentlich auszumalen – »eine ziemliche Krakelei«, wie ihre Mutter allerdings meint. Am Sederabend haben die zwei Bücher dennoch genauso ihren festen Platz auf der langen Tafel wie die anderen Ausgaben aus Esthers Besitz.
Gäste Die 41-Jährige lädt an Pessach gerne viele Gäste ein, daher ist der Bedarf an Haggadot groß. Und zu jeder kann die Buchautorin und Illustratorin eine Geschichte erzählen: Die englisch-hebräische Version zum Beispiel hat sie vor vielen Jahren aus Israel mitgebracht, als sie an Pessach ihre Jugendliebe im Kibbuz besuchte. Das Heft lag zum Mitlesen im Speisesaal aus, wo man sich damals zum großen Seder versammelte.
Und dann zeigt Esther noch eine wunderschöne Ausgabe, verlegt von der Jüdischen Verlagsanstalt, mit Abbildungen aus verschiedenen mittelalterlichen Handschriften, die sie vor Jahren in der Jüdischen Buchhandlung in Berlin erwarb.
Und eine zerfledderte Schul-Haggada, ausgemustert aus der Bibliothek der Lichtigfeld-Schule, nachdem sie ihrem Aussehen nach dort durch viele aufgeregte und verschwitzte Kinderhände gegangen sein muss. »Sie bietet einen enormen Vorteil gegenüber den anderen Exemplaren«, erklärt Esther, vor allem bei Tisch: »Ihre Seiten sind komplett abwaschbar.«
Auch bei Joan bekommt am Seder jeder Gast eine eigene Haggada überreicht. Mit den Jahren hat sie sich davon einen kleinen Vorrat angelegt. Aber ein Exemplar behält sie am liebsten für sich und ihre Familie: »Das ist das Buch aus meiner Kindheit«, sagt sie, eine Haggada auf Hebräisch mit Punktierung, Schwarz-Weiß-Bildern und einer englischen Übersetzung. Wenn sie diesen Band in Händen hält, steigen sofort viele Bilder in ihr auf, Erinnerungen an die Pessachfeiern ihrer Kindheit. Denn schon ihr Vater benutzte damals diese bei »Sinai« in Tel Aviv erschienene Edition, auch wenn sein Exemplar noch einige Pessachfeiern mehr erlebt hat als ihres.
Geschenk Joans Ausgabe stammt aus dem Jahr 1971 und ist ein Geschenk des Jüdischen Nationalfonds. Am Aufbau, am Text und bei den Illustrationen hat sich in all dieser Zeit und in mehreren Neuauflagen nichts geändert. »Ich sehe mich noch bei Papa auf dem Schoß sitzen und zuhören« – mit dem Blättern in diesem mit wunderschönen Ornamenten verzierten Buch kehren bei der 54-Jährigen sofort die Erinnerungen zurück.
Aufgewachsen ist Joan in Lübeck: »Wir wohnten damals direkt neben der Synagoge, und mein Vater hat versucht, die dortige kleine jüdische Gemeinde am Leben zu erhalten, unter anderem mit den großen Sedarim an Pessach. Sogar aus Hamburg kamen einige Leute eigens dafür angereist. 80 Gäste waren gar nichts an Pessach. Meine Eltern stellten Biertische und -bänke auf, damit alle Platz hatten. Und meine Großmutter stand die ganze Zeit in der Küche. Sie stammte aus Litauen und konnte fantastisch kochen. Ihr Gefilte Fisch und ihr roter Borschtsch waren legendär. Am Ende des Sederabends haben sich viele etwas von dem Borschtsch in mitgebrachte Flaschen abgefüllt.«
In diesem Jahr wird Joan die beiden Sederabende ausnahmsweise allein mit ihrem Mann und den beiden Kindern verbringen. Ihre Eltern leben mittlerweile bei ihrer Schwester in Israel. Aber an der Tradition, wie sie sie in ihrer Kindheit selbst erlebt hat, hält Joan ungebrochen fest. »Damals in Lübeck haben wir nichts ausgelassen in der Haggada, und das machen wir auch heute nicht. Das wird bei uns voll durchgezogen, bis zum Ende.«
Einmal hätten sie und ihr Mann allerdings versucht, den Text ein wenig abzukürzen, doch stießen sie damit auf den empörten Widerstand ihrer Kinder. Worüber sie sich insgeheim natürlich gefreut haben: »Wir sind beide sehr traditionell erzogen worden und freuen uns jetzt, dass wir diese Traditionen an die nächste Generation weitergeben konnten.«
REzepte Auch beim Essen hält sich Joan an vertraute Familienbräuche. »Jahrelang haben meine Schwester und ich immer noch bei der Oma angerufen und gefragt, wie sie dies und jenes zubereitet hat.« Jetzt beherrscht sie die Rezepte ihrer Kindheit selbst aus dem Effeff. »Jedes Jahr sitze ich auf dem Balkon und reibe mit tränenden Augen den roten Meerrettich.« Auch das Charosset stellt sie selbst her. Und nach aschkenasischer Gepflogenheit verwendet sie keinen Hähnchenschenkel für den rituellen Knochen auf dem Sederteller, sondern einen Teil aus der Rinderrippe.
»Diesen Knochen grille ich dann so lange auf offenem Feuer, bis alles Blut daraus verschwunden ist.« Sederteller und Elijahu-Becher bleiben bei Joans Familie übrigens acht Tage lang stehen, bis Pessach wirklich vorbei ist.
Transkription Nicht jeder hat wie Esther eine Jugendliebe im Kibbuz, und nicht jeder verbindet so schöne Kindheitserinnerungen mit Pessach wie Joan. Eine Haggada brauchen aber alle, um den Sederabend begehen zu können. Abhilfe schaffen kann da vielleicht die »Haggada Mismor LeToda«, die der Zentralrat der Juden zum diesjährigen Pessachfest neu aufgelegt hat. Sie gilt als der »Klassiker« im orthodoxen Judentum und wird auch die »Basler Haggada« genannt.
Die Ausgabe, die der Zentralrat gemeinsam mit Rabbiner Israel Meir Levinger herausgibt, liegt in zwei seitengleichen Versionen vor, zum einen in Hebräisch mit deutscher Übersetzung und Transkription, zum anderen in Hebräisch mit russischer Übersetzung und Transkription. Damit können alle Teilnehmer des Sederabends dem Ablauf gut folgen.
Online Doch heutzutage kann man den Seder natürlich auch ganz zeitgemäß am Bildschirm seines Laptops verbringen: Durch die Zeremonie leitet einen dann eine »Free Haggadah«, die sich auf der Website www.hebrewbooks.org aufrufen lässt.
Oder man lädt sich den jahrtausendealten Text auf sein Smartphone und legt dieses dann, statt eines Buches, zum Vorlesen auf den Tisch. Ob damit in 20 Jahren auch noch schöne Erinnerungen an die Kindheit aufkommen wie bei der nur dürftig ausgemalten Haggada von Benjamin, darf jedoch bezweifelt werden.