Während auf dem Rasen die Sonnenflecken tanzen, ruht der graue rechteckige Stein flach auf der Erde. Seine Schlichtheit wirkt stark. Die geschwungene Inschrift erinnert an das kurze Leben der Ruth Kirschbaum. Das behinderte jüdische Mädchen, geboren 1934 in Dresden, wurde am 21.11.1941 in der »Landesheil- und Pflegeanstalt« Leipzig-Dösen Opfer der nationalsozialistischen Kinder-Euthanasie. Das Foto ihres Grabmals auf dem Alten Israelitischen Friedhof begegnet einem als Erstes, wenn man auf der Internetseite der Stadt Leipzig das digitale Gedenk- und Totenbuch aufschlägt.
Ergänzungen Anlässlich des Gedenktages der Opfer des Holocaust wurde diese Datenbank nun am 27. Januar offiziell dem ersten Bürgermeister der Stadt, Andreas Müller, übergeben. Im Internet sind ab sofort Name, Vorname, Geburtsdatum, Geburtsort, Nationalität, Opfergruppe, Sterbedatum, Sterbeort und der Erinnerungsort des jeweiligen Opfers öffentlich zugänglich. Die Liste wird ständig erweitert.
Der Stadtrat selbst hatte im September 2000 das Projekt beschlossen, mit dessen Koordination die Abteilung Friedhöfe des Amtes für Stadtgrün und Gewässer beauftragt wurde. Mit dem Gedenk- und Totenbuch soll nicht nur an eines der schwärzesten Kapitel der Stadtgeschichte erinnert werden. »Zugleich soll mit der Dokumentation der Leipziger Opfer der Nationalsozialisten den ständigen Versuchen rechtsradikaler Kräfte, insbesondere auch diese Stadt als Aufmarschgebiet und als Verbreitungsgebiet ihrer menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Parolen zu missbrauchen, ein Denkzeichen entgegengesetzt werden«, betont Günter Schmidt, Leiter der Arbeitsgruppe.
opfergruppen Das Gedenkbuch beinhaltet die Angaben von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, der Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit sowie von Bürgern, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer ausländischen Wurzeln oder ihrer religiösen und politischen Einstellung in KZ-Haft genommen und ermordet wurden. Der Bezug zur Stadt Leipzig wird bewusst weit gefasst. »Es kann der Geburtsort der Opfer sein, ihr Wohn-, Arbeits- und Wirkungsort, der Ort ihres Leidens unter den Nationalsozialisten, der Todesort oder der Ort, an dem sich ihre Grabstätte befunden hat oder befindet«, erläutert Günter Schmidt. Ihn unterstützen zehn bis zwölf Mitarbeiter, von denen sich meist jeder speziell einer Opfergruppe widmet. So besteht unter anderem eine Zusammenarbeit mit dem Bund der Antifaschisten/VVN und der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig.
Letztere kann mit ihrem Archiv dienen. »Aufschlussreich sind die Korrespondenzen aus den 50er-Jahren. Im Zuge von Restitutionsansprüchen wurden viele Nachweise über jüdische Identitäten eingereicht«, erklärt Klaudia Krenn, Sekretärin der Gemeinde. Sie arbeitet Hand in Hand mit Ellen Bertram, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Schicksale der jüdischen Opfer zu erforschen. Ihr Engagement begann jedoch weit früher. In der Auskunft der Deutschen Bücherei in Leipzig tätig, konnte sie 1988 kaum Quellen zur jüdischen Geschichte ihrer Stadt finden, die für eine Ausstellung angefordert wurden.
»Vor dem Krieg lebten in Leipzig 12.000 Juden. Seitdem ich erkannt habe, was für eine große Rolle sie einmal gespielt haben, möchte ich wenigstens für die Erinnerung sorgen«, so Ellen Bertrams Motivation. In ihrem Buch Menschen ohne Grabstein hat sie Spuren von 1.000 deportierten und ermordeten Leipziger Juden verfolgt. Aktuell rekonstruiert sie Lebenswege der damals bereits emigrierten 1.300 Leipziger Juden.
Hinterbliebene Ellen Bertram begegnen viele leidvolle Geschichten. Mittlerweile weiß sie: »Diese Arbeit kann man nur machen, wenn man sie von seinen Emotionen trennen kann.« Bei ihren Recherchen greift sie beispielsweise auf das deutsche Bundesarchiv oder auf die Datenbank der Gedenk und Forschungsstätte Yad Vashem in Jerusalem zurück. Sie und ihre Kollegen müssen ständig Informationen abgleichen, die sie aus Zeugnissen von Angehörigen der Opfer, Dokumenten oder Deportationslisten gewinnen. »Datenbanken gibt es viele, aber darin die Leipziger zu finden, macht Mühe«, erklärt sie. »Beeindruckend ist immer wieder die Zusammenarbeit mit Hinterbliebenen von Opfern weit über Deutschland hinaus bis nach Israel und Australien«, ergänzt Günter Schmidt. Die Informationen müssen per Hand in das elektronische Gedenkbuch eingepflegt werden. Die Stadt Leipzig hat zwei kurzzeitig Beschäftigte eingestellt und das Computerprogramm finanziert. Alle Mitglieder der Arbeitsgruppe wirken ehrenamtlich. Ellen Bertram wünscht sich mehr Unterstützung. »An diesem Tag werden überall Sonntagsreden gehalten, aber die eigentliche Arbeit machen wir«, meint sie mit Blick auf den Gedenktag.
Die Übergabe des Gedenkbuches in Leipzig ist nur eine von vielen Veranstaltungen zum 27. Januar. Viele Orte erinnern an ihre Opfer, indem Gemeinden, Vereine und Organisationen die Feierlichkeiten häufig gemeinsam ausrichten. Ein politisch guter Ton scheint obligatorisch, immerhin bekommen die Opfer ihre Namen zurück, und Erinnerungen werden konkret.